Integrative Lerntherapie bei Legasthenie/LRS & Dyskalkulie
sowie derer seelischen Folgeproblematiken
Ein interdisziplinäres ganzheitliches förderdiagnostisches Konzept
mit sonder- & sozialpädagogischen Anteilen
Der Inhalt im Überblick
1 ZUR STRUKTUR DES GANZEN
2 BEGRIFFSBESCHREIBUNGEN UND -ABGRENZUNGEN
2.1 VERHALTENSAUFFÄLLIGKEIT UND ABWEICHENDES VERHALTEN
2.2 LERNBEHINDERUNG UND LERNBEEINTRÄCHTIGUNG
2.3 GANZHEITLICHKEIT
3 ANFORDERUNGEN AN EINE IDEALE PERSÖNLICHKEITSSTRUKTUR DES/DER THERAPEUTEN/IN
4 EIN INTERDISZIPLINÄRES FÖRDERDIAGNOSTISCHES KONZEPT
4.1 ZIELGRUPPE
4.2 KONZEPTION
4.3 LERNFÖRDERUNG BEI VERHALTENSAUFFÄLLIGKEIT/SEELISCHER BEEINTRÄCHTIGUNG
4.4 LEGASTHENIE/LRS – FÖRDERUNG
4.4.1 Der Begriff der Legasthenie/LRS und ihre Symptomatik
4.4.2 Spezifische Ziele der Förderung
4.4.3 Detaillierter Einblick in die Intervention bei LRS & mäßiger Verhaltensauffälligkeit anhand eines Fallbeispiels
4.5 DYSKALKULIEFÖRDERUNG
4.5.1 Der Begriff der Dyskalkulie und Symptomatik
4.5.2 Spezifische Intervention
4.6 KONZENTRATIONSFÖRDERUNG
4.6.1 Der Begriff der Aufmerksamkeit und Konzentration
4.6.2 Zielsetzung der Intervention
4.7 WEITERE THERAPEUTISCHE ELEMENTE MIT DER ZIELSETZUNG DER LERNFÖRDERUNG UND VERHALTENSMODIFIKATION
5 ENTSTEHUNG AGGRESSIVEN VERHALTENS, INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN
5.1 GRUNDLAGEN DER MOTIVATIONSPSYCHLOGIE
5.1.1 Einleitung
5.1.2 Grundlinien der Motivationstheorie
5.1.3 Bedingungskonstellationen, lesen und schreiben zu lernen
5.1.4 Lernbereitschaft und Misserfolgsangst
5.2 AGGRESSION ALS TRIEB- UND OBJEKTSCHICKSAL
5.2.1 A g g r e s s i o n und A g g r e s s i v i t ä t (Definition)
5.2.2 Psychoanalytische Ansätze
5.2.3 Verhaltensbiologischer Erklärungsversuch
5.2.4 Psychologische und soziologische Ansätze
5.2.5 Frustrations-Aggressions-Hypothese
5.2.6 Opfer-theoretische Erklärung
5.2.7 Zusammenfassung der Hauptentstehungstheorien und ein eigener praxisbezogener integrativer Ansatz
5.3 SCHULISCHE UND AUßERSCHULISCHE URSACHEN
5.3.1 Außerschulische Ursachen
5.3.2 Schulische Ursachen
5.4 AUSPRÄGUNG AGGRESSIVEN VERHALTENS
5.5 AGGRESSIVES VERHALTEN ALS BOTSCHAFT
5.6 INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN
5.6.1 Konkrete Hilfen zur Aggressionsbewältigung und ursachenkompensatorisches Vorgehen
5.6.2 Maßnahmen bei verschiedenen Aggressionstypen
5.7 PRAKTISCHE UMSETZUNG ANHAND EXEMPLARISCHER SZENENSKIZZEN
5.7.1 Aggression als Reaktion auf Leistungszwang
5.7.2 Aggression als Folge eines Minderwertigkeits- und Unterlegenheitsgefühls
6 LRS- UND DYSKALKULIEFÖRDERUNG BEI MANIFESTEN VERSAGENSÄNGSTEN
7 KONKLUSION UND AUSBLICK
8 LITERATUR
1 Zur Struktur des Ganzen
Nachstehend wird ein interdisziplinäres, ganzheitlich orientiertes förderdiagnostisches Konzept auf Basis systemisch-konstruktivistischer Erkenntnistheorie erläutert.
Um die pädagogischen Einstellungen zu verdeutlichen, ist es unerlässlich, den humanphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Hintergrund zu beschreiben. Hierdurch wird die Positionierung des Konzeptes im Humanismus nachvollziehbar, welche sich im besonderen im zugrundeliegenden Menschenbild zeigt.
Das wissenschaftliche Fundament inklusive der Ätiologie von Teilleistungsschwächen und seelischen Beeinträchtigungen ist ausführlich referiert, um die methodisch-didaktischen Aspekte des Konzeptes zu begründen.
Detaillierte Fallskizzen gewährleisten Plastizität, erleichtern die Vorstellungsbildung der Leser/innen und verdeutlichen die Übertragbarkeit des wissenschaftlichen Ansatzes in die Praxis.
Vorrangige Zielsetzung der Förderungen, die auf diesem Konzept basieren, ist die Auflösung des spiralförmigen Rückkoppelungsprozesses, durch den die Entstehung von Legasthenie/LRS und Dyskalkulie/Rechenschwäche und aus diesen kognitiven Teilleistungsschwächen resultierenden seelischen Beeinträchtigungen charakterisiert ist.
2 Begriffsbeschreibungen und -abgrenzungen
Nachstehend sollen die grundlegenden Begriffe erläutert werden, um das Verständnis der Zusammenhänge zu ermöglichen. Zu beginnen ist mit dem Begriff der Verhaltensauffälligkeit, da abweichendem Verhalten in diesem Konzept insofern eine zentrale Rolle zukommt, als es häufig als Konsequenz von Teilleistungsschwächen auftritt, einer seelischen Behinderung entspringt.
2.1 Verhaltensauffälligkeit und abweichendes Verhalten
Neurotisch, gestört oder verlangsamt sind keine Eigenschaften einer Person, sondern Zuschreibungen durch eine in der Machthierarchie höher stehende Person […]. Der Normalitätsbegriff wird aus der individuellen Entwicklung und der evtl. vergleichbaren Phasenorientierung Gleichaltriger in die jeweilige Gruppe oder Gesellschaft hineinverlegt und gleichzeitig relativiert (Herv. d. Verf.) (Czerwenka, 1985, S. 11).
Es gibt verschiedene Zugangswege zu dem Problem der Verhaltensauffälligkeiten, denen die Basis der System- und somit Normabhängigkeit gemeinsam ist. Als da wären die soziologische, psychoanalytische, verhaltenstherapeutische, medizinische, epidemiologische, sozialtherapeutische, sonderpädagogische, organisationssoziologische, interaktionistische usw. Sichtweise.
Nach Tannenberg (1953) ist die Zuschreibung durch die Umwelt für die Entstehung abweichenden Verhaltens maßgeblich. Der Labeling Approach ist kurz wie folgt definiert: „’The young delinquent becomes bad, because he is defined as bad’“ (Tannenberg; zit. nach Lamnek, 1994, S. 23).
Diese Definition lenkt die Sichtweise weg von der ätiologischen (Untersuchung der Ursache-Wirkungs-Relation) hin zum Gegenstand der gesellschaftlichen Reaktionen. Der Labeling Approach umfasst nachstehende Aspekte:
• Es sind die auf bestimmte Verhaltensweisen erfolgenden Reaktionen der sozialen Umwelt, die abweichendes Verhalten produzieren.
• Die Produktion abweichenden Verhaltens erfolgt in einem interaktiven Prozess.
• In diesem Prozess kann es sich um die Normsetzung wie auch um eine Normabweichung handeln.
• Die Zuschreibung des Etiketts ‘abweichend’ erfolgt gruppen-, situations- und personenspezifisch, also selektiv.
• Durch den Selektionseffekt ergibt sich, dass gleiche Verhaltensweisen sowohl abweichend als auch konform definiert werden können.• Lese-Rechtschreib-Schwäche.
• Verhaltensweisen als abweichend zu definieren, ist informell und/oder formell durch Instanzen der sozialen Kontrolle möglich.
• Erfolgen solche Definitionen nicht verhaltensspezifisch, sondern personen- und rollenspezifisch, so werden die konformen Handlungsmöglichkeiten reduziert und es entsteht eine abweichende Karriere.
• Durch weitere Definitions- und Zuschreibungsprozesse entwickelt sich eineabweichende Identität, in der sich abweichende Verhaltensweisen verfestigen(Lamnek, 1994, S. 24).
Somit wird die soziale Kontrolle nicht als Folge des abweichenden Verhaltens, sondern als dasselbe (mit)verursachend angesehen.
Aus einer langewährenden Diskussion, in deren Rahmen Begriffe wie schul-, erziehungs- und gemeinschaftsschwierig, verwahrlost, entwicklungsgehemmt, psychosozial – gestört, etc. aufgrund der Verkürztheit der Sichtweise, ihres negativ etikettierenden Charakters und/oder der Beengtheit ihrer Anwendbarkeit als unangemessen herausgestellt wurden, ist seit 1950 der Begriff Verhaltensstörung, -auffälligkeit, seelische Behinderung am Häufigsten verwendet.
Wobei der Begriff Störung stärker medizinisch orientiert und m. E. negativer getönt ist, da er zu stark auf den defizitären Aspekt andersartigen Verhaltens ausgerichtet ist.
Auch nach Barkley (1986) ist der Begriff Auffälligkeit sinnhafter, weil „nicht in jedem Fall die verhaltensauffällige Person bestimmte Merkmale aufweist (Herv. d. Verf.), sondern der Beobachter Verhalten als auffällig wahrnimmt (Herv. d. Verf.)“ (S. 883).
Beide Begriffe beziehen sich auf den „normativen Bezugsrahmen“ (Werning, 1989, S. 17) des herrschenden Gesellschaftssystems, nicht wie die meisten der o. g. Bezeichnungen auf nur ein eng beschränktes pädagogisches Feld (bspw. Schule).
Die Übergänge von normkonformem und zu abweichendem Verhalten sind fließend, da die Beobachtung und Bewertung bspw. durch den/die LehrerIn ein subjektiver Prozeß ist, somit von den Normen innerhalb des institutionellen Rahmens und den persönlichen geprägt ist (Ortner & Ortner, 1995). Zudem ist das Verhalten vor der Lebenssituation und Handlungserfordernis zu sehen, d. h. situationsspezifisch.
Die Bezeichnungen erziehungsschwieriger oder verhaltensauffälliger, [seelisch behinderter] Schüler sind bezüglich ihrer theoretischen Implikationen offener: Erziehungsschwierigkeit tönt an, daß das Problem ein interaktionsbezogenes und nicht ein ausschließlich personbezogenes Problem darstellt. Der interaktionelle Aspekt von Verhaltensproblemen tritt damit stärker in den Vordergrund (Thommen, 1985, S.106).
Die Ausrichtung aller Definitionsansätze auf Normorientierung, d. h. die Kennzeichnung abweichenden Verhaltens in Bezug auf ein normiertes System, erweckt den Eindruck, „als wären Normen apodiktisch immer und überall geltende Verhaltensforderungen, deren Realisierung oder Abweichung im Verhalten immer eindeutig feststellbar ist“ (Lamnek, 1979, S. 29 f.).
Es muss bedacht werden, dass diese Normen stets auf das Ziel hin zu hinterfragen sind, ob sie zu Recht den Anspruch erheben, „als unbedingte Verhaltensanforderung gelten zu dürfen“ (S. 30).
Eine ausschließliche Normorientierung einer Definition abweichenden Verhaltens hält Lamnek für fragwürdig, da Normen situations-, positions- und kulturspezifisch sind.
Neben der Option, abweichendes Verhalten normorientiert zu definieren, verweist er auf erwartungs- und sanktionsorientierte Erklärungsansätze und kommt zu dem Schluss, „dass sich abweichendes Verhalten sowohl als Vergleich zwischen der konkreten Verhaltensweise und der Verhaltensanforderung einerseits, als auch aus der Sanktionsbereitschaft auf eine mögliche Diskrepanz hin ergibt“ (S. 54). Selbiges gilt für seelische Behinderungen.
Insbesondere betont möchte ich den Aspekt wissen, dass im Sinne der systemischen Sichtweise jedwedes Verhalten, so auch (oder im besonderen) abweichendes, situativ sinnhaftig ist. Wobei ich mich hier nicht auf eine bestimmte Systemtheorie beziehe, sondern ich mit der Verwendung des Systenbegriffs lediglich andeuten möchte, dass ich den Menschen in ein komplexes Bedingungsgefüge komplizierter Wechselwirkungen eingebunden sehe.
2.2 Lernbehinderung und Lernbeeinträchtigung
Diese Begrifflichkeiten sind zu klären, um die Verbindung des vorliegenden Konzeptes im Zusammenhang mit dem Bildungsauftrag von Schule und außerschulischer Förderung zu verdeutlichen.
Teilleistungsschwächen können im Gegensatz zur gängigen Definition von Legasthenie/LRS und Dyskalkulie auch bei im Lernen beeinträchtigten SchülerInnen vorliegen. Auch diese SchülerInnen, die eine Förderschule besuchen, könnten nach dem vorliegenden Konzept gefördert werden. Es eröffnet folglich Möglichkeiten über den Rahmen des KJHG und SGB VIII hinaus.
Die gegenwärtige Abgrenzung von Teilleistungsschwäche bei geringer Intelligenz gegenüber Legasthenie/LRS und Dyskalkulie, also bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz, ist eine willkürliche, fragliche am IQ-Niveau, nicht so aber an Wahrnehmungsfähigkeiten orientierte. Gerecht erscheint es mir nicht, Förderschüler/innen von der Möglichkeit außerschulischer Förderung auszuschließen.
Nach Weigert (1987) gibt es auch keine allgemein gültige und verbindliche Definition der Begrifflichkeiten Lernbehinderung und -störung.
Versuche wie von Kanter (1984), Personen als lernbehindert zu charakterisieren, „wenn sie, bezogen auf die Altersnorm, einen psychischen Entwicklungs- und schulischen Leistungsrückstand von mehr als 2 – 3 Jahren aufweisen; in einem validen Intelligenzmssverfahren einen Gesamt-IQ von etwa 75 nicht wesentlich überschreiten (untere Grenze zur geistigen Behinderung etwa 55) und ein retardiertes Sozialverhalten zeigen“ (S. 106), entsprechen nicht den realen Begebenheiten.
So bestimmen Pädagog/innen nach Weigerts Einschätzung, die ich teile, derzeitig weitgehend subjektiv und emotional geleitet, wer als schwerwiegend, umfänglich und langfristig im schulischen Lernen beeinträchtigt gilt. Besondere Betonung liegt auf dem letzten Wort des Satzes, da es sich bei der Etikettierung als lernbehindert, -beeinträchtigt um eine Zuschreibung, nicht so unbedingt um einen Ist-Zustand handelt.
Denn es stellt sich die Frage nach der Relativität, also nach dem Bezugssystem; zudem stellen Prognosen oftmals eine Anmaßung dar.
Ebenso wegen ihrer Relativität und Basis der subjektiven LehrerInnenwahrnehmung wenig tauglich für die praktische Arbeit ist die Definition nach Weinert und Zielinski, in der dann von Lernschwierigkeiten gesprochen wird, „wenn die Leistungen eines Schülers unterhalb der tolerierbaren Abweichungen von verbindlichen institutionellen, sozialen und individuellen Bezugsnormen (Standards, Anforderungen, Erwartungen) liegen und wenn das Erreichen von Standards mit Belastungen verbunden ist, die zu unerwünschten Nebenwirkungen im Verhalten, Erleben oder in der Persönlichkeitsentwicklung des Lernenden führen (Herv. d. Verf.)“ (zit. nach Zielinski, 1980, S. 14). Positiv anzumerken ist hier der Blick auf das Selbsterleben des Kindes.
Zwar finden sich detaillierte Beschreibungen, um die Begriffe Lernbeeinträchtigung und -behinderung voneinander abzugrenzen, aber zur Diagnose geeignet sind diese nicht. Übereinstimmend kommen die Autoren zu dem Schlss, dass der Übergang von Lernbeeinträchtigungen zur Lernbehinderung fließend ist. Problematisch ist die Abgrenzung wiederum wegen der Relativität der Kategorien „umfassend“ und „langandauernd“.
Müssen wir konstatieren, daß weder der Intelligenzquotient […] noch vermeintlich operationalisierbare Deskription der Symptomatik […] Abgrenzungen zwischen Lernbehinderungen und Lernstörungen begründen können (Weigert, 1984, S. 43 f.).
Ehe man sich ernsthaft der tautologischen Definition nach Klein (1973) anschließt, nach der jene SchülerInnen als lernbehindert gelten, welche eine Schule für Lernbehinderte besuchen (vgl. Weigert, 1984, S. 44), ist es sinnvoll, auf eine präzise Definition der Begrifflichkeiten zu verzichten und mit dem Phänomen (keine Definitionsambition !) des massiven Regelschulversagens bzw. individueller Lern- und Leistungsschwierigkeiten als Arbeitsbegriff umzugehen.
Um Diffamierungen zu vermeiden, ist von Kindern und Jugendlichen mit Lernbeeinträchtigungen zu sprechen, um sie als Menschen nicht auf ihre Auffälligkeit zu reduzieren, welche lediglich bezogen auf ein Element (nämlich die Schule und ihre Normen) des Bezugssystems in Form einer m. E. fragwürdigen leistungsorientierten Gesellschaftsform konstatierbar ist.
‘Drohende Lernbehinderungen’ meint dann Lernschwächen, Lernstörungen und Grundschulversagen, die bei unterlassener Prävention oder bei entsprechender Massierung und Generalisierung zur Aufnahme in die Schule für Lernbehinderte führen könnte. ‘Manifeste Lernbehinderungen’ heißt einmal, daß die Lernbeeinträchtigungen derart gravierend sind, daß der Schüler nur in einer Schule für Lernbehinderte adäquat gefördert werden kann, und zum andern umschreibt der Begriff die Tatsache des Sonderschulbesuchs selbst (Weigert, 1984, S. 45).
Ortner & Ortner (1995) fassen den Begriff der Lernbeeinträchtigung präziser mit der Umschreibung, dass es sich hierbei um alle diejenigen Schwierigkeiten handele, „welche die Aufnahme, Speicherung, Verknüpfung und Weiterverwendung von Wahrnehmungseindrücken hemmen“ (S. 4).
Diese Darstellung ermöglicht einen direkten Bezug des Begriffes auf die praktische Arbeit; so werden hiermit Dimensionen des Lernens angesprochen, die konkret förderbar sind. Diese Sichtweise ist auf Legasthenie/LRS und Dyskalkulie zu übertragen.
Abschließend möchte ich die hier skizzierten Arbeitsbegriffe gegen die Bezeichnung „Schulschwäche“ abgrenzen, die sich nur auf ein enges pädagogisches Feld bezieht und eine unzulässige Sammelbezeichnung für Lernstörungen, Teilleistungsschwächen, Verhaltensauffälligkeiten, Sprachschwierigkeiten und drohende und leichtere Behinderungen aller Art darstellt.
Bei der Legasthenie/LRS und Dyskalkulie ist von einer Teilleistungschwäche zu sprechen, was in Kapitel 4.4 und 4.5 erläutert wird.
2.3 Ganzheitlichkeit
Auch für den Begriff Ganzheitlichkeit existiert keine präzise und umfassende Definition. Durch folgende Beschreibung ausschlaggebender Aspekte wird er aber als Arbeitsbegriff fassbar.
Eine ganzheitliche Förderungsausrichtung bezieht sich auf die Basis der Ganzheit des Menschen. Er steht als unteilbares Individuum im Vordergrund der Effektivitätsüberlegungen jeglicher Intervention.
Nach Speck besteht eine ganzheitliche Förderung aus Elementen verschiedener Spezialprogramme, einzeln so gewichtet, wie es die individuelle Problemlage erfordert. Grundlage ist die Annahme, dass kein Spezialprogramm für sich beanspruchen kann, für den ganzen Menschen zuständig zu sein, wohl aber durch interdisziplinäre Kooperation eine der Individualität jedes Menschen am nächsten kommende Lösung konzipiert werden kann. Alle Teile des Programms ergeben mehr als den puren Additionswert der Einzelkomponenten.
Ich teile nicht die von Klein angeführte Kritik, der Begriff stehe im Widerspruch zur systemtheoretischen Sichtweise. Im Gegensatz zu Klein bin ich der Auffassung, dass der Mensch als Ganzheit sich durchaus in einem Bedingungsgefüge mit den Elementen seiner Lebenswelt befinden kann. Fehlerhaft ist die Schlussfolgerung einiger PädagogInnen, dass mit dem Blick auf die Ganzheitlichkeit des Menschen verbunden sei, selbigen als Wesen ohne Bezug zu seiner Umwelt anzusehen. So entsteht der scheinbare Widerspruch zu systemtheoretischen Ansätzen.
Gerade ein Konglomerat aus ganzheitlicher und systemischer Sichtweise wird m. E. der Komplexität menschlicher Wesen und menschlichen Zusammenlebens am ehesten gerecht.
3 Anforderungen an eine ideale Persönlichkeitsstruktur des/der Therapeuten/in
Als Anforderungen an die ideale Persönlichkeitsstruktur der MitarbeiterInnen werden gestellt:
• Einfühlungsvermögen
• Partnerschaftlichkeit
• Geduld
• Beziehungsfähigkeit
• Vorbildfunktion und Identifikationsmöglichkeit
• Kooperationsfähigkeit und Bereitschaft zu interdiszplinärem Austausch
• Kreativität
• Ausgeglichenheit
• Authentizität
Eine derartig vollständig nahezu fehlerlos im Sinne des „guten Menschen“ erscheinende Person ist naturgemäß nicht existent, aber es soll anhand dieser Attributszuschreibung deutlich werden, welche tendenziellen Eigenschaften der Therapie zuträglich sind. Im Umkehrschluss sind es Härte, Leistungs- und Prinzipienorientierung, Strenge und ähnliche autoritäre sowie minderreflektierte Persönlichkeitsmerkmale, die eine Person für diese Tätigkeit ungeeignet erscheinen lassen.
Der/die Therapeut/in muss über folgende Qualifikationen verfügen:
• detailliertes Wissen über Wahrnehmungs- und Teilleistungsstörungen
• (in)formelle Diagnoseverfahren
• psychologische Kenntnisse speziell abweichenden Verhaltens und seiner Entstehung
• pädagogische Interventionsmöglichkeiten
• alternative Heilmethoden (Kinesiologie, Entspannungsverfahren)
• Gesprächsführung
4 Ein interdisziplinäres förderdiagnostisches Konzept
4.1 Zielgruppe
Nach dem vorliegenden Konzept können Kinder und Jugendliche aller Altersstufen gefördert werden. Eine Bestandsaufnahme im Bereich der LRS- und Dyskalkulie-Therapie zeigt, dass die meisten SchülerInnen im Alter von neun bis zwölf Jahren auffällig werden.
Es werden zu 65% Jungen in den meisten Einrichtungen gefördert. So spricht also keine Signifikanz dafür, dass LRS und Dyskalkulie geschlechtsspezifisch determinierte Lernbeeinträchtigungen sind. Doch ist die Untersuchungsgruppe für gesicherte statistische Aussagen derzeitig noch zu klein. Die seelischen Beeinträchtigungen wie Depressivität, Ängstlichkeit, Resignation und Aggressivität sind bei beiden Geschlechtern als gleichermaßen ausgeprägt zu hypothetisieren.
Die sozio-kulturelle Herkunft der Schüler/innen ist heterogen.
4.2 Konzeption
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Lern- und Verhaltensstörungen oftmals gemeinsam in Abhängigkeit voneinander auftreten und ihnen am effektivsten im Rahmen einer ganzheitlichen Förderung nach förderdiagnostischen Gesichtspunkten entgegengewirkt werden kann.
Es werden Elemente verschiedener verhaltenstherapeutischer Maßnahmen und Lernförderprogramme (Spiel- und Bewegungstherapie, Motopädagogik, psycho-motorisches Training, Entspannungstechniken, Wahrnehmungs- und Konzentrationstraining, schriftsprachliche und rechnerische Förderung) zu einem individuellen Förderplan zusammengestellt, dessen Effektivität beständig überprüft und welcher gegebenenfalls im Laufe der Therapie modifiziert wird.
Die Förderungen gliedern sich je nach Bedarf in verschiedene Abschnitte unterschiedlicher Schwerpunkte (bspw. vorerst Abbau von Aggressionen durch verhaltenstherapeutische Intervention: Spiel- und Maltherapie, Entspannungsverfahren und hiernach auf der Basis von Vertrauen des Kindes in die Einrichtung und Zunahme psychischer Ausgeglichenheit Hinführung zur Legasthenie/LRS- bzw. Dyskalkulieförderung und zum Konzentrationstraining), oder es wird ein mehrteiliges Programm erarbeitet, in dem alle Elemente gleichzeitig zusammenwirken (bspw. Abbau von Versagensängsten mit Entspannungsverfahren bei gleichzeitiger Ausrichtung auf die Förderung im schriftsprachlichen Bereich).
Es zeichnet sich eine generelle Tendenz zur Phasenbildung ab, auch wenn eine parallele Ausrichtung der Elemente zu Beginn festgelegt wurde, da stets ein Defizit im Vordergrund steht, wobei allerdings alle Elemente, wenn auch reduziert, zusätzlich herangezogen werden.
Die ganzheitliche Sichtweise des Menschen bedingt, dass kognitiven und emotionalen Fähigkeiten des Kindes/Jugendlichen gleiche Wichtigkeit beigemessen wird.
4.3 Lernförderung bei Verhaltensauffälligkeit/seelischer Beeinträchtigung
Es ist zu verdeutlichen, inwieweit durch das Herausfallen des Kindes/Jugendlichen aus dem schulischen Curriculum Verhaltensauffälligkeiten entstehen oder aber Verhaltensblockaden zum Herausfallen aus dem Curriculum führen. Weil diese sich zumeist in den Symptomen der Leistungsverweigerung, Lernblockaden, Ängsten, Selbstwertproblematiken etc. zeigen, muss vor oder begleitend zu der spezifischen Lese-, Rechtschreib- bzw. Rechenförderung eine motivationspsychologisch und verhaltensmodifikatorisch orientierte Intervention stehen, um einem Kind oder Jugendlichen seinen individuellen Weg zu Leistungsbereitschaft zu ermöglichen.
4.4 Legasthenie/LRS-Förderung
4.4.1 Der Begriff der Legasthenie/LRS und ihre Symptomatik
Die Legasthenie/LRS stellt nach Ortner & Ortner (1995) eine Erweiterung der Leseschwäche dar. Letztere ist „eine (zunächst nicht näher präzisierte) Schwäche (oder Konstellation von Schwächen) in Bezug auf Voraussetzungen und Fähigkeiten […], die für das Erlernen des Lesens notwendig sind“ (S. 268). Die Schwäche kann mit allgemein verminderter Intelligenz bzw. Leistungsfähigkeit auftreten oder sich isoliert auf das Erlernen des Lesens beschränken. Sie „kann vorübergehend, also grundsätzlich behebbar, oder (meist bei bestimmten ererbten oder erworbenen Schädigungen) von Dauer sein“ (S. 268).
Treten dieser Schwäche Schwierigkeiten beim Erwerb der Schriftsprache hinzu, wird von Legasthenie/LRS gesprochen. Für die Legathenie/LRS gilt ebenso die Möglichkeit des Auftretens verbunden mit einem niedrigen Intelligenzniveau, anderen Lernschwierigkeiten oder in isolierter Form (Grissemann, 1990). Beim Begriff der Legasthenie steht die Wissenschaftlichkeit im Vordergrund. Zur Schwierigkeit der begrifflichen Abgrenzung lesen Sie bitte auf dieser Website nach in DAS LERNEN, LEGASTHENIE.
Die kontrovers geführte Diskussion um diesen Begriff bewegt sich zwischen den drei Polen, die sie als „vorwiegend durch Vererbung bedingte Lernbehinderung […], als vorzugsweise auf eine Entwicklungs- und Reifeverzögerung zurückzuführende Schwäche […] und schließlich als Unterscheidung in eine ‘literale’ und ‘verbale’ Legasthenie“ (S. 268) erklären.
Zusammenfassend beschreibt die LRS
alle (vereinzelt oder variabel im Verbund auftretenden; im Vergleich zu anderen Schulleistungen isoliert oder nicht isoliert feststellbaren) individuell auftretenden Schwächen und Minderleistungen hinsichtlich grundlegender Fähigkeiten, die für das Erlernen des Lesens und Rechtschreibens notwendige Voraussetzungen sind und welche in ihrer Erscheinungsweise vorübergehend […] oder dauerhaft […] sein können (S. 269).
Die Beeinträchtigungen lauten grobklassifiziert wie folgt: auditive Erfassungsschwäche, visuelle Diskriminierungsschwäche, Deutungsschwäche von Konsonanten und Vokalen, visuelle Wahrnehmungs- und Speicherschwäche, Raumlageschwäche, mangelndes Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis, graphomotrische Störungen und sekundäre Lern- und Leistungsblockaden. Diese Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Detailliertheit uns Vollständigkeit. Ergänzend ist der Anhang zu vergleichen.
Die Symptome lassen sich in primäre und sekundäre unterteilen. So gehören zu den primären Symptomen Buchstabenreversionen, -inversionen, -umstellungen, Formauffassungs-, Differenzierungs- und Durchgliederungsfehler. Unter sekundäre Probleme fallen Verhaltensveränderungen, Leistungsversagen, gegen die Umwelt oder auf das Selbst gerichtete auffällige Verhaltensweisen und Sprechhemmungen.
Als Ursachen, welche nicht klar von den Symptomen abgrenzbar sind, erkennt man organische Faktoren (Wahrnehmungsstörungen, graphomotorische Schwächen, Körperkoordinationsstörungen bzw. ein hyperkinetisches Syndrom mit der Folge des Konzentrationsmangels, frühkindliche Entwicklungsstörmomente etc.), sprachliche Faktoren (Schwächen in kognitiven Sprachbereichen wie Präzision, Abstraktion, Beweglichkeit des Ausdrucks und grammatisch-syntaktischer Darstellungsfähigkeit, Kodierungs- und Dekodierungsschwierigkeiten, dialektbedingte sprachliche Eigenarten, Fehlbildungen, Auslassungen von Lauten, Silben, Wörtern, Sprachstörungen wie stammeln, poltern oder eine Dyslalie), emotionale Faktoren (Stimmungs- und Dynamikschwankungen, geringe Frustrationstoleranz etc.) und didaktisch-schulorganisatorische Faktoren (Leistungsdruck, innerfamiliäre Konflikte, indifferentes Lehrcurriculum etc.).
Unbegreiflich ist nach Wardemann (1994) die Tatsache, dass ausschließlich ein(e) SchülerIn mit LRS bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz nach dem KJHG förderungsbedürftig ist; aber „bei einem geringen IQ ihm <(einem im standardisierten Intelligenztest unterdurchschnittlich abschneidenden Schüler)> bis heute noch die Diagnose Legasthenie verweigert wird. Das ist nicht logisch, aber sozialverträglich; denn auch ein unterdurchschnittlich Intelligenter könnte diese Störungen aufweisen, aber bei dem ist ja eh …“ (S. 40). Somit stellt sich die derzeitig praktizierte Haltung zur Problematik der Legasthenie als Privilegienwirtschaft dar. Ich gedenke durch mein Abweichen von der verbreiteten Mittelschichtsorientierung auch anderen höhere Bildungschancen einzuräumen.
4.4.2 Spezifische Ziele der Förderung
Es gilt, die Voraussetzungen für den Lese- und Schreiblernprozess zu schaffen. Diese gliedern sich grob in physiologisch-organische Voraussetzungen durch Ausbildung des visuellen, auditiven, haptischen Perzeptionsvorganges und des Sprechapparates, Voraussetzungen zentraler Funktionen und Verstehensleistungen (visuelle, auditive, sprechtechnische und sprachliche Fähigkeiten), stabilisierte Hemnisphärendominanz, Raum-Lage-Identifizierung und -koordination, Konzentrationsfähigkeit, intrinsische Motivation und dem psychisch-sozialen Entwicklungsstand im Sinne der Schulfähigkeit.
4.4.3 Detaillierter Einblick in die Intervention bei LRS mit mäßiger Verhaltensauffälligkeiten anhand eines Fallbeispiels
Nachstehend ist eine Förderung beschrieben, anhand derer deutlich wird, wie aus dem theoretischen Konzept Handlungsstrategien folgen können. Deutlich wird insbesondere die Orientierung der Förderung an den situativen individuellen Fähigkeiten der SchülerInnen.
Die Ausgangssituation
Anton (Name geändert) wurde mir zu Beginn des zweiten Schulhalbjahres der fünften Klasse vorgestellt. Er war fast zwölf Jahre alt. Anton hat keine Geschwister, seine Eltern sind berufstätig, verbringen aber viel Zeit mit ihm, zufriedenstellenderweise nicht, indem sie mit ihm lernen, sondern zur Freizeitgestaltung. Er treibt gerne Sport, was von seinen Eltern unterstützt wird. Über seine schulischen Probleme berichteten mir seine Eltern, dass seine Rechtschreibfähigkeit gravierende Mängel aufzeige. Man habe ihm deswegen nahegelegt, selbige intensiv zu trainieren, wodurch sie sicherlich einem altersgemäßen Niveau anzupassen sei. Anton selbst entschied sich für tägliches Arbeiten mit einem Rechtschreiblernprogramm am Computer und zwei von mir betreute Sitzungen pro Woche. Im Anschluss an diese Absprachen wurde Anton von einer Kinder- und Jugendpsychiaterin der Sozialpsychologischen Beratungsstelle getestet und der Verdacht einer Legasthenie bei durchschnittlicher Intelligenz bestätigt.
Die erkennbare erfreulich überdurchschnittliche Selbstverantwortlichkeit Antons als Elf-, Zwölfjährigen prägte anfänglich die Förderung. So stellte schon die Notwendigkeit der Orthographieübung für den weiteren schulischen Werdegang eine immense Motivation dar – wohl sicherlich nicht „gewöhnlich“ in diesem Alter. Damit sei kein Bild von Anton als streberhaftem, schulfixiertem und stets bejahendem Schüler entworfen. Hierauf gehe ich später näher ein. Als eine förderliche Bedingungsvariable hierfür ist das ungezwungene Verhältnis zu seinen Eltern anzunehmen, in dessen Rahmen er gut gelernt zu haben scheint, Verantwortung übernehmen zu können. Erste Anzeichen des Pubertätsbeginns zeichneten sich allerdings schon ab.
Weitere Informationen erfragte ich vor der ersten Sitzung nicht, sie wurden mir auch nicht „aufgezwungen“, was mir insofern sehr entgegenkam, als ich mir unvoreingenommen mein Bild von Anton machen konnte. Ich möchte hiermit nicht zum Ausdruck bringen, dass ich keinen Wert auf das Urteil seiner Eltern, seines Lehrers und der Mitarbeiterin der Beratungsstelle gelegt hätte, sondern dass ich so offener meinen persönlichen Zugang zu Anton suchen konnte. Gerade zu Beginn ist besonders aufmerksam auf die Individualität des/der SchülerInnen einzugehen ist. Nur so nämlich ist m. E. vertrautes und möglichst weit von schulischen Zwängen entferntes Arbeitsverhältnis zu schaffen, dessen Notwendigkeit bereits aus Gründen der Motivation notwendig ist. Eine umfangreiche Information kann die eigene Einschätzung gerade unerfahrener Betreuer/innen unbewusst in die Richtung der durch Eltern und LehrerInnen verursachten Stigmatisierung des Kindes lenken.
Ich musste die Erfahrung machen, dass nicht wenige SchülerInnen durch falsche Einschätzung ihres täglichen Umfeldes zu leistungsschwachen gemacht wurden, da eine Stigmatisierung stark demotivierend zu wirken begonnen hatte. Übernimmt man nun ein solches (Vor-)Urteil, wird die angestrebte Ungezwungenheit des ersten Umgangs und die Spontaneität des gemeinsamen Arbeitens unbewusst verringert/verhindert. Die ersten Stunden im Umgang mit einer fördernden Person sind für den Lernerfolg mithin entscheidend, da auf beiden Seiten Grenzen und Regeln zu beobachten bzw. festzulegen sind. Von einer Selbstdarstellung des/der LehrerIn als Autorität halte ich wenig; weiß aber auch aus Erfahrung, daß sich Gleichberechtigung und Autorität im Verhältnis zwischen SchülerIn und LehrerIn nicht ausschließen müssen, was dennoch häufig der Fall ist. In Antons Fall erwies sich meine Vorsicht als überzeichnet, da man Anton weder unter Leistungsdruck gesetzt hatte, noch ihm unterstellte, ein „hoffnungsloser Fall“ zu sein.
Während der ersten Sitzungen lernte ich Anton als zurückhaltend, vernünftig und einsichtig kennen. Er war im Umgang mit mir nicht aufsässig oder desinteressiert. Unser Verhältnis war überdurchschnittlich lange distanziert, aber nicht feindselig geprägt. Im weiteren Verlauf „taute“ Anton „auf“: Er begann, ausführlicher auf meine Fragen nach Schule und Freizeit zu antworten, und wir konnten auch zusammen lachen, was mir grundsätzlich bei der Arbeit mit SchülerInnen sehr wichtig ist.
Anton hat auch in Mathe und Englisch so starke Schwierigkeiten, dass er sich im (näheren) Umfeld der Note mangelhaft befindet. In Mathe hatte er sich durch Nachhilfe gering verbessert.
Ursächlich für seine Rechtschreibschwierigkeiten scheint neben seiner Wahrnehmungsschwäche vermehrte geistige Abwesenheit während der Unterrichtsstunden zu sein. Trotzdem sehe ich in der Menge und der Unterschiedlichkeit seiner intensiv vertieften Interessen einen Hinweis auf eine gut zu erreichende Motivation, auch den Schulstoff zu lernen, so der Rahmen interessant gestaltet ist. Eine Lernbereitschaft ist unter geeigneten Umständen gegeben.
Meine Beobachtungen wurden in einem Gespräch mit seinem Lehrer größtenteils bestätigt. Auch in der Schule war man der Ansicht, Anton könne mehr leisten, als er zu zeigen in der Lage sei. Ich bekam noch einige Hinweise auf spezielle Rechtschreibschwie-rigkeiten Antons, die ich hier aber nicht im einzelnen darlegen möchte, da sie im Rahmen der Lernstandsanalyse zu erwähnen sind.
Die Lernstandsanalyse
In der Natur der Sache einer Rechtschreibförderung liegt natürlich, dass nicht nur der allgemeine Entwicklungsstand (evtl. Hirnschädigungen, Motivation, Konzentrationsfähigkeit, feinmotorische Fähigkeiten, Wahrnehmung, etc.) des/der Schüler/in zu bestimmen ist, sondern speziell die Rechtschreibleistung analysiert werden muss:
Zielsetzung
Die Lernstandsanalyse soll dem/der Lehrenden als Ergebnis sowohl die quantitative als auch die qualitative Rechtschreibleistung liefern. Es müssen also Testmethoden gesucht werden, die es erstens möglich machen zu testen, wie viele Fehler der/die Schüler/in im Vergleich zum Durchschnitt macht. Zudem muss ein differenziertes Bild der Fehlerarten deutlich werden. Denn es existiert eine unabschätzbare Fülle von möglichen Versionen einer nicht zufrieden stellenden Rechtschreibleistung. Die wichtigsten fünf Fehlerkategorien sind Dialektfehler, Regelfehler, visuelle und auditive Wahrnehmungsfehler und Leichtsinnsfehler. Daneben können diverse individuell unterschiedliche Fehlerschwerpunkte auftreten.
Weiterhin soll die Lernstandsanalyse neben diesen rechtschreibungsspezifischen Erkenntnissen Ansatzpunkte für die Methodik einer sinnvollen, kindorientierten und altersgemäßen Therapie liefern. D. h. der/die Lehrende muss die Arbeitshaltung des/der Schüler/in wahrnehmen und richtig einstufen können.
Rechtschreibschwierigkeiten lassen oft als Hauptursache einen Konzentrationsmangel annehmen, aber der/die allgemeine Schüler/in ist nicht existent. Deswegen ist abzusichern, ob Konzentrations-, Motivationsmangel, visuelle oder auditive Wahrnehmungsschwierigkeiten oder andere Beeinträchtigungen vorliegen, um den Anfang für ein angemessenes Förderungskonzept entwickeln zu können.
Methodik und Resultate
Die Leistungsanalyse ist unter förderdiagnostischem Aspekt kein einmaliger Vorgang. Zur Überprüfung der Effizienz der Fördermaßnahmen ist sie regelmäßig zu wiederholen und zu ergänzen. Je nach Erfolg der Therapie können die Ergebnisse mit dem/der Schüler/in zur Motivationsförderung durchgegangen werden. So kann eine übermäßige Fremdattribuierung vermieden werden.
Ein wichtiges Indiz zur Fehleranalyse liefert die Antwort auf die LehrerInnenfrage: „Was denkst du dir, wenn du das so machst ?“ Natürlich sollte man sich davon nicht zuviel versprechen, da viele Schüler/innen nicht in der Lage sind, ihre Arbeitsstrategien zu beobachten, andere haben noch keine entwickelt, wieder andere können sie nicht beschreiben etc.. Deswegen ist also nur von Indizien zu sprechen.
Als mögliche diagnostische Methoden sind traditionelle Prüfverfahren, informelle Überprüfungsverfahren und standardisierte Schulleistungstests zu unterscheiden. Die nachstehende Tabelle zeigt, dass für eine qualifizierte Leistungsüberprüfung ein standardisierter Schulleistungstest herangezogen werden sollte:
Straub, 1979, S. 8
Prüfverfahren
Prüfverfahren Gütekriterien | standardisierter Schulleistungstest | informelles Überprüfungsverfahren | traditionelles Prüfverfahren |
Normen | überregionaler Vergleichsmaßstab | dazwischen | klasseninterner Vergleichsmaßstab |
Objektivität | ++ | + | niedrig |
Validität | + | + | unterschiedlich |
Reliabilität | meist hoch | meist niedriger als bei standardisierten Schulleistungstests | sehr niedrig |
Ökonomie | + | + | unterschiedlich |
Normen erlauben den Vergleich einer individuellen Schülerleistung mit einer größeren Bezugsgruppe, d. h. innerhalb der Bezugsgruppe wird die Leistung durch einen Rangplatz eingestuft.
Objektivität besagt, dass Durchführung und Auswertung unabhängig vom/von der Beurteiler/in sind.
Validität (Gültigkeit) bestimmt den Grad der Genauigkeit.
Reliabilität (Zuverlässigkeit) bezieht sich auf die formale Genauigkeit der Ergebnisse (unabhängig davon, was gemessen wird).
Ökonomie verlangt, dass ein Verfahren einfach durchzuführen ist und sofort zu eindeutigen Ergebnissen führt.
Da es nicht meine Intention war, Antons Rechtschreibleistung quantitativ vergleichbar in einem bestimmten Bezugssystem festzustellen, sondern seine Rechtschreibschwächen inhaltlich (qualitativ) zu analysieren und ein Fehlerprofil zu erstellen, habe ich mich für traditionelle bzw. informelle Prüfverfahren entschieden. Zwar gewährleistet das Schreiben nach Diktat und die Bearbeitung verschiedener Rechtschreibübungen wegen der Abhängigkeit vom verwendeten (nicht standardisierten) Text keine Bestimmung der Leistung im Vergleich zu Durchschnittswerten, ist aber zur Klassifizierung der Fehlerarten geeignet. Auch eine Beobachtung der relativen Häufigkeit bestimmter Fehler ist möglich.
Die Durchführung eines standardisierten Schulleistungstests und informeller Prüfverfahren war deswegen nicht notwendig.
Ich habe für Anton Diktattexte mit unterschiedlichen Rechtschreibschwerpunkten sortiert nach beobachteter durchschnittlicher Fehlerdichte ausgewählt, die es ermöglichten, seine individuellen Stärken und Schwächen zu erkennen. Ähnlich ging ich beim Test der Fähigkeiten vor, die das Erlernen der Rechtschreibung erleichtern: die visuelle und akustische Wahrnehmung, die Konzentrationsfähigkeit, die kognitiven Fähigkeiten etc.. Ich legte Anton zu diesem Zweck verschiedene Differenzierungsübungen vor, bei denen kleine Unterschiede visuell bzw. akustisch zu erfassen waren, ließ ihn optisch gliedern und prüfte seine kognitiven Fähigkeiten mit Elementegruppen und Matrizen.
Die Auswertung der ersten Tests nach zwei Sitzungen ergaben, dass Antons primäres Rechtschreibdefizit die Groß- und Kleinschreibung war. Er hatte das Regelwerk nicht verinnerlicht, wodurch es natürlich auch nicht anwendbar war. Bei zu wenigen Worten des Grundwortschatzes der Orientierungsstufe konnte er über großen und kleinen Anfangsbuchstaben der Grundform richtig entscheiden. Weitere Fehlerkomplexe waren die Differenzierungsschwierigkeit zwischen ss/ß/s, d/t, e/ä, Dehnungen und Doppelkonsonanten. Er erkannte zwar „Qu“ und „qu“, schrieb aber „kw“. Der Rechtschreibungslehrgang des altersgemäßen Grundwortschatzes war nicht völlig erschlossen. Die Fehlerwörter im einzelnen möchte ich hier nicht aufzählen. Unbekannte Worte schrieb er lautgetreu, auch nachdem ich ihn aufgefordert hatte, im Zweifelsfall zu fragen, d. h. diese Art der „Problemlösung“ war bereits manifestiert.
Seine auditive Wahrnehmung war nicht eingeschränkt, aber er hatte Konzentrationsprobleme, welche sicherlich durch seine „Schulunlust“ verstärkt wurden. Also hatte ich auch eine Lernmotivations orientierte Konzentrationsförderung in mein Konzept einzubeziehen, um Ermüdungserscheinungen die Basis zu entziehen. Seine visuelle Wahrnehmung schien hinreichend geschult zu sein. Doch dieses Ergebnis musste ich alsbald revidieren, da ich Schwierigkeiten mit der Formkonstanz entdeckte. So ist er in der Lage, einen Text, der kopfständisch vor ihm liegt flüssig und schnell zu lesen, hat aber Schwierigkeiten, Buchstabenfolgen- und ausrichtungen zu vergleichen und dabei Fehler zu entdecken. Natürlich kann es sich hier auch um einen Konzentrationsmangel handeln. Ich habe deswegen dem Anspruch der Mehrdimensionalität folgend zum Konzentrationstraining Übungen ausgesucht, die auch gleichzeitig die visuelle Formerfassung schulen.
Er hatte mehrfach die Schwierigkeit, Arbeitsanweisungen ad hoc zu verstehen, fragte dann aber sofort nach. Die Leistungsmotivation (s. o.) und Belastbarkeit waren nicht hinreichend ausgebildet.
Die Menge und Art der Fehler bestätigten, was Anton mir selbst berichtet hatte, nämlich dass er schon lange nicht gerne und gut rechtschreibe. Um diese in einem langewährenden Prozess entstandene Unzulänglichkeit auszugleichen, würde kein standatisierter Schnellkursus ausreichen. Derartige Kurse sind für Schüler/innen, die bereits den Anschluss an das schulische Curriculum verloren haben, per se nicht geeignet.
Das Förderkonzept
Um ein Rechtschreibfähigkeitsdefizit auszugleichen, sollte man eine ganzheitliche Förderung anstreben. Ein derartiges Konzept beinhaltet neben erklärendem und einübendem Rechtschreibtraining auch Konzentrationsübungen, Überlegungen zur Steigerung der Leistungsmotivation, psychomotorische Übungen und verhaltenstherapeutische Elemente. Besonders überzeugend scheint mir in diesem Zusammenhang die Studie Eggerts (1975), die zeigt, dass Rechtschreibleistungen sogar ganz ohne Schreibübungen und Regeltraining zu verbessern sind. Da ich mich in diesem Fall jedoch wegen der Verfehlung der Altersangemessenheit gegen psychomotorische Übungen entschied, widme ich mich diesem Aspekt im Folgenden nicht weiter.
Mein Förderkonzept basiert zudem auf dem Ansatz, zur Verbesserung der Rechtschreibleistung unter anderen Funktionen insbesondere die Konzentration und die Motivation fördern zu müssen, da diese Grundvoraussetzungen des Orthographielernprozesses sind. Ich stelle die Förderungen dieser drei Funktionsbereiche in verschiedenen Kapiteln vor, weise aber ausdrücklich daraufhin, dass man sich ihrer Korrelation gewahr bleiben muss. Sie sollen also als gleichwertig auf eine Betrachtungsebene gestellt sein.
Meiner Meinung nach ist es nicht unbedingt das Ziel dieser Förderung, Anton auf eine sehr gute, gute Note in Deutsch zu bringen, sondern Lernprozesse zu schulen und deren Anwendung zu üben, um dadurch ein selbständiges, motiviertes Lernverhalten zu bilden. Eine kurzfristige Verbesserung der Note ist zwar schon aus Gründen der Motivation wünschenswert, aber selten zu beobachten, da es sich um die Umkehrung eines langwierigen Verschlechterungsprozesses handelt, die sich wohl nicht sofort einstellen wird.
Ich möchte während der gesamten Förderung flexibel vorgehen, individuell auf Antons spezifische Defizite abgestimmt. So kann es zu einer nach anderen Gesichtspunkten aufgebauten Reihenfolge der Themen kommen, als sie im Schulunterricht vorgesehen ist. Gerechtfertigt ist diese Vorgehensweise schon durch die Tatsache, dass Anton bereits aus dem Schulcurriculum herausgefallen ist und nur durch das Schließen seiner Wissenslücken wieder zurückgeführt werden kann. Die Priorität der zu behandelnden inhaltlichen Bereiche ist aber durch den aktuellen Lehrplan beeinflusst.
Im Vordergrund steht die Schulung der Lernstrategien, d. h. der Grundlage für eigenständiges Lernen. Auch lernt Anton dadurch, selbständig Lerndefizite auszugleichen. Natürlich ist vorerst angeleitetes Arbeiten notwendig, denn (selbständig) üben, kann ernur, was schon kann, meint ihm schon erklärt wurde und er verstanden hat.
Die Rechtschreibförderung
Der Rechtschreiblernprozess basiert auf mehreren Funktionen, die zwar nicht getrennt voneinander zu fördern sind, aber die doch nacheinander im Vordergrund der Übungen stehen sollten. Der Konzentrations- und Motivationsförderung widme ich wegen ihrer hervorgehobenen Rolle im Rechtschreiblernprozess jeweils ein eigenes Kapitel.
Das Funktionstraining
Hier stelle ich kurze Überlegungen zur Art und Weise von Trainingsaufgaben für die Reaktions- und Speicherfähigkeit, zur Schulung der optischen Gliederungs- und Differenzierungsfähigkeit und zur Schulung der kognitiven Fähigkeiten vor.
Zum Training der Reaktions- und Speicherfähigkeit kann man beispielsweise dem/der Schüler/in kurz Figuren vorlegen, die er/sie nachzeichnen soll. Es sind Bilder zu wählen, deren Reproduktion nicht vom zeichnerischen Können des/der Schüler/in abhängen. Man sollte mit sehr einfachen Figuren beginnen und den Schwierigkeitsgrad allmählich steigern. Auch Würfelbilder, Buchstabenfolgen, Wortfolgen und Mammutsätze sind geeignet. Man kann auch verschiedene Gegenstände hinlegen und jeweils einen entfernen, der dann vom/von der SchülerIn benannt werden soll. Mit jüngeren Kindern kann man Spiele wie „Kofferpacken“ spielen. Anton wäre dann allerdings sicherlich nicht motiviert, sondern genervt.
Die visuelle Gliederungs- und Differenzierungsfähigkeit kann z. B. mit folgenden Übungen geschult werden: Das Kind soll zwei Darstellungen vergleichen, die scheinbar gleich sind, und Fehler entdecken. Man kann „Augengymnastik“ machen. Auch Wege in einem Labyrinth nachvollziehen zu lassen, ist sinnvoll.
Man kann Figurfragmente ergänzen lassen. Dazu soll zum Fragment anfangs noch das vollständige Ergebnis vorliegen, später ist dann zu versuchen, ob der/die SchülerIn diese Aufgabe auch ohne Vorlage bewältigen kann. Die Gliederungsfähigkeit wird insbesondere durch das Analysieren von geometrischen Figuren geschult. Aus Gründen der Motivation ist ein angemessenes Zeitlimit zu setzen.
Zur Schulung der kognitiven Fähigkeiten kann mit der Arbeit mit Elementegruppen begonnen werden. Man schreibt bzw. malt hierzu Zeilen mit fünf Elementen untereinander, von denen vier identisch sind und eines etwas im Aussehen abweicht. Dieses soll markiert werden. Wenn man zeichnen kann, kann man auch Bildreihen einsetzen. Es eignen sich ebenso Wortanalogien. Man kann auch Reihen, die eine beliebige logische Folge beschreiben, fortsetzen bzw. Lücken ausfüllen lassen. Weiterhin ist die Arbeit mit verschiedenen Matrizen gängig.
Bei allen Aufgaben muss ich darauf achten, dass sie Anton nicht zu sehr an Grundschulübungen erinnern und er sich deswegen „innerlich“ weigert, sie auszuführen. „Innerlich“ meint, dass er sie wohl bearbeiten wird, aber nicht motiviert und konzentriert und dementsprechend schlecht (unbewusste Blockade). Um erfolgreich zu werden, muss er zwar auch Aufgaben bearbeiten lernen, die er nicht mag, aber wenn seine Ablehnung auf Altersunangemessenheit beruhte, wäre es mein Fehler.
Hier wird wieder eine der größten Schwierigkeiten deutlich, nämlich seine Lernrückstände aus der Grundschulzeit mit inhaltlich auf Jugendliche abgestimmten Übungen aufholen zu wollen.
Die Konzentrationsförderung
Zielsetzung
Die Konzentrationsfähigkeit ist wie oben erwähnt eine notwendige Funktion für den Rechtschreiblernprozeß. Ich möchte Antons Konzentrationsvermögen nicht nur zur Verbesserung seiner Rechtschreibung schulen. Die Konzentration ist für alle Lernprozesse grundlegend. Durch die Förderung soll sich Antons Lernfähigkeit, seine Lernstrategien, sein Arbeitstempo und -verhalten und seine Belastbarkeit verbessern, da die Aufgaben alle diese Bereiche ansprechen. Die Konzentrationsförderung ist kein Selbstzweck. Schließlich ist es belanglos, ob sich jemand konzentrieren kann, wenn er/sie diese Konzentration nicht zielgerichtet einsetzt. Ott (1975) gibt an, dass es ohne Konzentration keine bewusste Tätigkeit gebe und bindet den Begriff in folgendes Modell ein:
Bedürfnisse/Spannungen
Beweggründe/Motive
Triebe~Gefühle~Interessen
Aufmerksamkeit
Wahrnehmungen~Vorstellungen~
Denken
Konzentration
Zielvorstellung
Wille Handlung
Zielerreichung
Schöpferische Pause
Spannungsreduktion
Erfolgsfreude
Zufriedenheit
Unzufriedenheit
Ott, 1975, S. 6
Es ist anzunehmen, daß die Konzentrationsübungen auch Antons Motivationspotential erhöhen, da sie so angelegt sind, daß man schnell Erfolge erzielen kann. Auch weisen die Aufgaben nicht so direkt auf seine Rechtschreibschwierigkeiten hin.
Methodik
Die wohl bekanntesten Konzentrationsübungen sind Durchstreichübungen folgender Gestalt:
asrtügtäditjgoüdtsgavöhigzehlohjkügfhöknvuentükiughusdäöhgfhfduödfhikuhüwqq
weägfdgreuihüruiegukehgkögrhbdihfreüheiukhfriekävmncbmnbvcjkbnhküruiereuoö
jsdfjsdlüuiwüwevbfdjäogehqbjfkfnüöäjrfijeijrfiejföähgeifgekhngkrüeuoiruekfnä
Die Aufgabe ist hier, andersartige Elemente zu kennzeichnen. Die Zeit wird vorgegeben, aus Gründen der Motivation anfangs nicht allzu knapp. In Antons Fall werde ich die Arbeitsanleitung zur Übung schriftlich verfassen, da er große Schwierigkeiten hat, Aufgabenstellungen sinnentnehmend zu lesen. Er soll sie dann in seinen eigenen Worten wiedergeben, um Mißverständnissen vorzubeugen. Geschult werden mit diesen Aufgaben die Konzentration und das Arbeitstempo.
Ferner kann man Nachfahrübungen vorgeben. Hierbei geht es darum, kritische Buchstaben und ihre Verbindungen nachfahren zu lassen. Man gibt ebenfalls eine Zeitvorgabe, um die Motivation zu steigern.
Strukturierungsübungen können Sätze sein, die ohne Wortabstände geschrieben sind.
Optische Gliederungsübungen sind bspw. Zeichnungen, bei denen einzelne Stücke fehlen und zu ergänzen sind. Auf eine langsame Schwierigkeitssteigerung ist zu achten.
Kombinationsübungen lassen Zahl-Zeichen-Zuordnungen überprüfen.Den Schwierigkeitsgrad sollte man sehr genau bedenken, da leistungsschwache Schüler meistens eine geringe Frustrationstoleranz haben.
Die Motivationsförderung
Die Motivation ist eigentlich keine Funktion, auf der der Rechtschreiblernvorgang basiert. Aber sie ist letztendlich der Antrieb zu jeder Art von Leistung und deswegen zwingend in dieses Förderkonzept einzuflechten.
Da sich Anton in einer sehr schulunwilligen Phase befindet, muß ich ihn zum Lernen bewegen, indem ich Motivation erzeuge. Also ist interessantes Material auszuwählen; die Anforderungen dürfen nicht zu hoch oder zu niedrig sein; ich muß Erfolge überhöht darstellen, ohne dabei unglaubwürdig zu wirken; es muß ihm möglich werden, den (irgendeinen) Sinn darin zu finden, Rechtschreibung zu lernen; er muß Freude am Lernen gewinnen. Das sind sehr hoch gesteckte Ziele, die gerade bei diesem Lerndefizit sehr schlecht zu erreichen sind.
Ich versuche, Anton als Jugendlichen anzuerkennen, da er sich stark von Kindern abgegrenzt wissen möchte. Er darf einiges im Förderprogramm mitbestimmen, sich auch Aufgaben gegenüber verweigern, wenn er wenigstens versucht, mir einen Grund dafür zu nennen. Ich erkläre ihm oft, welchem Zweck die Übungen dienen, weil es ihm so leichter zu fallen scheint, sich auf die Förderung einzulassen.
Da der Selbsteinschätzung eine zentrale Rolle im Ursachengefüge für einen Motivationsmangel zukommt, versuche ich ihm zu einem kritischen, aber nicht negativen Selbstverständnis zu verhelfen. Ich habe den Eindruck, daß Anton ein wesentlich schlechteres Bild von sich selbst hat, als er es zeigt.
Er soll ein Gespür dafür bekommen, daß jemand, der/die hinreichend für die Schule lernt, nicht gleich einem/einer StreberIn ist.
Die wichtigste Voraussetzung für motiviertes Lernen ist das richtige Anspruchsniveau, sowohl des/der LehrerIn als auch des/der SchülerIn.
Besonders schwierig ist für mich zu entscheiden, wann Anton zum Lernen ermahnt werden muß und wann hingegen er besser beruhigt werden sollte, daß er „schon alles schaffe“. Er hat nämlich das Problem, sich einerseits zu blockieren, weil er seine großen Lerndefizite bemerkt, andererseits sagt er sich aber manchmal, daß „es schon besser werde“, wenn er „ein bißchen“ lerne.
4.5 Dyskalkulieförderung
Die Dyskalkulie- verläuft nach den gleichen Grundannahmen wie die LRS-Förderung. Es handelt sich bei der Dyskalkulie ebenfalls um eine komplexe Lernstörung.
4.5.1 Der Begriff der Dyskalkulie und Symptomatik
„Rechenschwäche ist gekennzeichnet durch anhaltende Schwierigkeiten im Erfassen rechnerischer Sachverhalte, im Umgang mit Zahlen und in der Bewältigung von Rechentechniken“ (Ortner & Ortner, 1995, S. 264). Wie die LRS kann die Dyskalkulie sowohl im Rahmen einer allgemeinen Schulleistungsschwäche begleitet von verschiedenen Lernbeeinträchtigungen oder isoliert auftreten.
Im einzelnen läßt die Dyskalkulie folgende Symptome erkennen, die aber zumeist ätiologisch verflochten auftreten:
Zu den primären Symptomen gehören Zählschwäche (Eins-zu-Eins-Zuordnung und Kardinalaspekt der Zahl schwierig, fehlerhafte Reihenfolge), mangelnder Mengenbegriff (Nichterkennung unterschiedlicher und gleichmächtiger Mengen), Schwierigkeiten bei den Grundrechenarten, beim Erkennen von Ordnungsrelationen, fehlerhafte Zahl-Ziffer-Zuordnung beim Abschreiben und Diktat, mangelnde Gedächtnisleistung, Fehler vorwiegend bei Textaufgaben, Schwierigkeiten bei der Klassifikation von Gegenständen, ungenügende Festigung von Rechenalgorithmen, Defizite im Vorstellungsvermögen, visuelle und auditive Wahrnehmungsfehler, fehlerhafte Strategieanwendung, Flüchtigkeitsfehler
Die möglichen Ursachen einer Dyskalkulie, deren Abgrenzung zu den vorab genannten Ausprägungen nicht eindeutig ist, sind in vier Kategorien zu teilen:
Zu den organischen Faktoren zählen Schwäche des anschaulichen Gedächtnisses, graphomotorische Störungen, visuelle Gliederungsschwächen, Störung der Wahrnehmung bei der Erfassung von Raum-Lage-Beziehungen. Die soziokulturellen und familiären Faktoren stellen spezifische gesellschaftliche, familiäre Einstellungen zu Leistung (Leistungsdruck), Konzentrationsmangel durch Belastung wegen innerfamiliärer Spannungen, sprachliche Schwierigkeiten etc. dar.
Als emotionale Faktoren gelten Störungen der Leistungsmotivation, Ängstlichkeit etc.. Zu den didaktisch-schulorganisatorischen Faktoren zählen u. a. schulische Mißerfolge vor allem in der Einschulungsphase bzw. wegen unreflektierter persönlicher Aversionen zwischen Kind und LehrerIn, längeres Fehlen, Probleme mit dem Curriculum etc..
Als mögliche seelische Folgeproblematiken können auftreten die Abnahme des Selbstwertgefühls einhergehend mit Minderwertigkeitsgefühlen, Zunahme von Versagensängsten und wachsende Mißerfolgsorientierung, Motivationslosigkeit, Unkonzentriertheit, Aggressivität, Leistungshemmung, bzw. -verweigerung mit der möglichen Folge einer globalen Lernbeeinträchtigung, soziale Probleme in der Klassengemeinschaft, psychosomatische Störungen, also eine zunehmende Beeinträchtigung des seelischen Gleichgewichts.
4.5.2 Spezifische Intervention
Um die Rechenleistung der von Dyskalkulie betroffenen SchülerInnen dem geforderten Schulleistungsniveau anzupassen, sind ihre Defizite auszugleichen, indem primäre und sekundäre Ursachen behoben werden. Somit sind notwendig: eine Begleichung des Defizites im anschauungsgebundenen Denken, beim Erfassen quantitativer Strukturen, Schulung der Abstraktionsfähigkeit, des räumlichen Vorstellungsvermögens, der Knüpfung logisch-abstrakter Beziehungen, der visuellen Gliederungs- und Gestaltunterscheidungsfähigkeit, der Einsicht in das dekadische Positionssystem, des Denkens am konkreten Gegenstand, der visuellen und auditiven Speicherfähigkeit, der Konzentration und der sprachlichen Dekodierungsfähigkeit. Die Intervention, die die sekundären Symptome im Blickfeld hat, ist in den folgenden Kapiteln beschrieben.
4.6 Konzentrationsförderung
Konzentrationsdefizite erschweren jeden Lernprozeß (vgl. Kapitel 4.2.2) und sind gerade bei der LRS und Dyskalkulie als komplexen Teilleistungsschwächen von hoher Bedeutung, weshalb ihr Ausgleich angezeigt ist.
4.6.1 Der Begriff der Aufmerksamkeit und Konzentration
Aufmerksamkeit ist nach Rohracher (1965) definiert als „der jeweilige Aktivitätsgrad der psychischen Funktionen, der Wahrnehmung, des Vorstellens oder des Denkens, oder aller Funktionen gleichzeitig“ (Ott, 1975, S. 15 f.).
Konzentration ist von concentrare (lat.: zusammenziehen) abgeleitet und bedeutet „zunächst die ‘Sammlung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand’ […] bzw. auf eng begrenzte Sachverhalte“ (Ortner & Ortner, 1995, S. 192).
Im psychologischen Verständnis ist Konzentration vom Begriff ‘Aufmerksamkeit’ insofern abzusetzen, als es sich hierbei um eine Gipfelform, eine ‘hohe und gebündelte’ […] Aufmerksamkeitsform handelt. Unter Konzentration als geistig-psychischem Vorgang versteht man somit eine ‘Sammlung und Bündelung der Sinne, des Fühlens und Denkens auf einen eng begrenzten Bereich außerhalb oder innerhalb der eigenen Person (Ortner & Ortner, 1995, S. 192).
Als Hauptsymptome einer Konzentrationsschwäche sind beobachtbar: primäre Auffälligkeiten wie verstärkte Ablenkbarkeit, geringe Ausdauer, schwankende Leistungen, motorische Unruhe, schwankendes Arbeitstempo und infolge hiervon die sekundären Symptome des gestörten Bezugs zum/r LehrerIn und den MitschülerInnen, Aggressivität, vegetative Labilität, depressives Verhalten, Passivität, AußenseiterInnenposition, etc..
4.6.2 Zielsetzung der Intervention
Aus der dargestellten Definition ergibt sich das Ziel der Wahrnehmungsschärfung und bündelung, damit Lerninhalte problemminimiert aufgenommen werden können. Beispiele und Begründungen für diese Förderung finden sich in Kapitel 4.2.2 im Rahmen der Fördermaßnahme eines legasthenen Schülers ohne gravierende Verhaltensauffälligkeiten.
4.7 Weitere therapeutische Elemente mit der Zielsetzung der Lernförde-rung und Verhaltensmodifikation
Um der Ganzheitlichkeit des Menschen Rechnung zu tragen und verhaltensmodifikatorisch Erfolge zu erzielen, werden in die Förderungen Elemente aus verschiedenen Therapieformen zusammengefügt. Hierbei stehen Entspannungstechniken und Methoden zum Abbau von Lernblockaden im Vordergrund.
Zu den angewandten Entspannungstechniken zählen das Autogene Training (inkl. Phantasiereisen), die Progressive Muskelentspannung und die Atemtherapie.
Alle hier genannten Therapieformen verfolgen das Ziel der Verarbeitungs- bzw. Verkraftenshilfe belastender seelischer Erlebnisse und gleichen deren Folgesymp-tomatiken (Aggressivität, Depressivität, vegetative Dystonie, Ängste, etc.) aus.
Die Kinder lernen, selbstsicherer und -verantwortlicher mit sich umzugehen. Die Methoden unterstützen die Kinder durch ihre spannungs- und krampfmildernden Wirkungsweisen dabei, zu innerer/m Freiheit und Frieden zu finden.
5 Entstehung aggressiven Verhaltens, Interventionsmöglichkeiten
5.1 Grundlagen der Motivationspsychlogie
5.1.1 Einleitung
Um eine entbehrliche Verkomplizierung der Sätze zu vermeiden, erwähne ich im folgenden nur den Erwerb der Schriftsprache. Es ist indes stets im Bewußtsein zu halten, daß für Rechen- und andere Lernstörungen gleiches gilt.
Viele Kinder und Jugendliche haben neben bzw. infolge ihrer Legasthenie/LRS oder Dyskalkulie Aggressionsschübe oder/und Leistungsängste, s. c. daß sich diese Schüler neben einer visuellen und/oder akustischen Wahrnehmungsbeeinträchtigung und daraus resultierend dem Erwerb der Fertigkeiten für das Lesen und Rechtschreiben verweigern bzw. blockiert sind. Aus ihrer Erfahrung, den Anforderungen nicht gerecht zu werden und unterhalb des Leistungsdurchschnitts der MitschülerInnen zu liegen, ist eine Demotivation bis hin zur Leistungsverweigerung entstanden. Als Basis für das Verständnis der Entstehung aggressiven Verhaltens ist ein Einblick in die Motivationspsychologie sinnvoll.
5.1.2 Grundlinien der Motivationstheorie
Den meisten Motivationstheorien, namentlich erwähnt seien beispielsweise Murray (30er Jahre), Atkinson (60er Jahre), Weiner (70er Jahre) und Heckhausen (70er/80er Jahre), ist der Grundgedanke gemeinsam, daß das, was ein Mensch für erstrebenswert hält, und wie er es zu erreichen sucht, davon abhängt, welche Bedeutung das Ziel für ihn hat und wie wahrscheinlich es ihm erscheint, selbiges zu erreichen (Weiner, 1984; nach Kretschmann & Elspaß, 1992).
Die Motivation einer Person ist abhängig von den Eigenschaften der Person, die bedingt werden durch Erfahrungen im Lernen, und den Bewertungen der Situation, in der Lernen passiert/en (soll). Auch diese Bewertungen werden im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung erworben.
Im folgenden ist die Theorie von Atkinson (1984) näher erläutert. Hiernach unterliegt jede Lern- und Leistungssituation vier Determinanten:
• Me: die Motivation der Person, auf dem Gebiet, um das es geht, Erfolge zu erzielen
• Mm: die Motivation der Person, auf dem Gebiet, um das geht, Mißerfolge zu vermeiden
• We: die subjektive Wahrscheinlichkeit der Personen erfolgreich zu sein
• Ae: der Anreiz, den das Erreichen des Zieles ausübt
Unter Mm ist eine Mißerfolgsmotivation bzw. -angst zu verstehen, die auf eine Risikominimierung gerichtet ist. Wird diese aber durch eine schwierigkeitsgeprägte Lerngeschichte höher als die Erfolgsmotivation Me, kommt es zu Entwicklungsretardierungen und Stagnation im Lernprozeß.
5.1.3 Bedingungskonstellationen, lesen und schreiben zu lernen
Die voranstehend genannten Determinanten stehen laut Atkinson (1984) in Abhängigkeit voneinander wie folgt: Tr = (Me-Mm) We Ae, wobei Tr die aus der Bedingungskonstellation resultierende Tendenz der Bereitschaft des Kindes ist, lesen und schreiben zu lernen. Für den Bereich des Schriftspracherwerbs ergeben sich auf der Basis der vorstehenden Erläuterungen Begriffsbestimmungen wie folgt. Unter Ae ist der Anreiz zu verstehen, den das Lesen- und Schreibenlernen auf ein Kind ausübt. We steht für die vom Kind subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeit, erfolgreich lesen und schreiben zu lernen. Me ist die Leistungsmotivation, im Lesen und Schreiben voranzukommen, und Mm die Mißerfolgsmotivation, d. h. die Angst, im Lesen und Schreiben zu versagen, also „möglicherweise aus Angst vor Strafe, dem Risiko des Scheiterns durch Vermeidungsverhalten zu entgehen“ (Kretschmann & Elspaß, 1992).
Tendenzielle Lernbereitschaft oder -verweigerung hängt demnach von den Größen-verhältnissen der Determinanten ab. Ein Engagement für das Lesen- und Schreibenlernen ist zu erwarten, wenn
• die Erfolgsmotivation größer als die Mißerfolgsangst ist,
• lesen und schreiben für das Kind einen Anreiz haben und
• es selbst mit der Chance rechnet, die Aufgabe zu bewältigen.
Entsprechend ist Vermeidungsverhalten – möglicherweise aggressiver Prägung – eine Folge von
• Unattraktivität des Lerngegenstandes und /oder
• Inkompetenzempfinden dem Lerngegenstand gegenüber als einer als zu schwierig empfundenen Aufgabe.
Besonders diffizil ist es, eine effektive Lernförderung für Kinder zu konzipieren, bei denen die Mißerfolgserwartung höher ist als die Erfolgserwartung, da diese Kinder zumeist ihre Kompetenz, das Leistungsziel zu erreichen als unzureichend empfinden und somit der Anreiz, das Lesen und Schreiben zu lernen, vollständig kompensiert wird. Hier ist eine ausgeprägte Sensitivität der fördernden Person im Umgang mit dem Kind unabdingbar.
5.1.4 Lernbereitschaft und Mißerfolgsangst
Je höher das Interesse am Lesen- und Schreibenlernen ist, desto bereitwilliger wird ein Kind an dem Lehrangebot teilnehmen. Entsteht aber eine Mißerfolgsangst, wird ein vorhandenes Interesse nicht ausreichen, um die Lernbereitschaft des Kindes zu erhalten. Die subjektive Bewertung der Wahrscheinlichkeit, einen Mißerfolg hinnehmen zu müssen, ist ausschlaggebend für eine Fortführung der Lerntätigkeit. Begreiflicherweise ist es angebracht, der Entstehung von Mißerfolgsängsten vorzubeugen, da eine Kompensation weitaus schwieriger ist, worauf nachstehend einzugehen ist.
Nicht nur legasthene SchülerInnen, sondern auch andere SchreibanfängerInnen können durch ein unpassendes schulisches Angebot ein Gefühl der Hilflosigkeit bekommen. Besonders augenfällig ist die Problematik aber bei legasthenen SchülerInnen, da auf ihre spezifischen Wahrnehmungsdefizite im Schriftspracherwerb nicht eingegangen wird und sie zudem nicht von ihrer Verantwortlichkeit hierfür losgesprochen, sondern als minderbegabt und/oder faul stigmatisiert werden.
Kinder mit negativen Vorerfahrungen werden beständig mit dem Erlebnis des Versagens und des Scheiterns konfrontiert. So entstehen etappenweise das Syndrom der Hilflosigkeit und daraus resultierender Aggression gegen die leistungsfordernde Umwelt.
Vertiefende Informationen zur Therapiegestaltung bei manifesten Versagensängsten sind Kapitel 6 zu entnehmen.
5.2 Aggression als Trieb- und Objektschicksal
Nach einem Definitionsversuch der Begriffe Aggression und Aggressivität findet sich im folgenden eine Übersicht über unterschiedliche theoretisch-hypothetische Erklärungsansätze zur Entstehung aggressiven Verhaltens ergänzt durch Ergebnisse, die aus Realitätsbeobachtungen resultieren, und Auspägungsbeschreibungen sowie Interventionsmöglichkeiten unter verschiedenen Gesichtspunkten.
5.2.1 A g g r e s s i o n und A g g r e s s i v i t ä t (Definition)
Der Bereich, der durch die Begriffe Aggression und Aggressivität attribuiert wird, kann nach Ortner & Ortner (1995) nicht exakt eingegrenzt werden. Er ist abhängig von dem Spektrum als aggressiv bezeichneter Verhaltensweisen und der Entstehungstheorie, auf die Bezug genommen wird.
Die Begriffe Aggression und Aggressivität werden synonym als Zuschreibung eines emotionalen Zustandes verwendet und implizieren zumeist ein hieraus resultierendes aggressives Verhalten. Lediglich Dorsch (1982) unterscheidet dahingehend, daß Aggressivität habituell gewordene Aggression sei (vgl. S. 14), und den emotionalen Zustand vom Verhalten, wobei er letzteres als absichtlich schädigendes definiert. Ich halte diese Unterscheidung für elementar, da nicht aus jedem Gefühl der Aggression oder aus der Aggressivität eines Menschen zwingend aggressives Verhalten resultieren muß.
Diese Unterscheidung in Gemütszustand und Verhalten findet sich sonst nicht, was ich für indifferent halte. So lauten die gängigen Definitionen wie im folgenden an Beispielen dargestellt.
Nach Kutter (1993) ist aggressives Verhalten in Konfliktsituationen zwischen verschiedenen Individuen und Gruppen zu beobachten, beispielsweise im Generationen-, Klassen- oder Geschlechterkonflikt, zwischen Mitgliedern unterschiedlicher politischer Gesinnungen etc.. Er definiert Aggression ähnlich wie Dorsch (1982) als „zerstörendes, zumindest aber störendes Verhalten“ (S. 12) und grenzt subjektives Erleben von Aggression und objektive Bewertung des Erlebten aggressiven Gefühls gegeneinander ab.
Leinhofer (1991) beschreibt bezogen auf Merz Aggression „als ein Verhalten […], das eine <(in)direkte> Schädigung eines Artgenossen intendiert“ (S. 52). Er verweist auf die Vernachlässigung der auf Objekte gerichteten Aggression in dieser Definition nach Merz und erweitert diese dahingehend, daß „Aggression als eine Verhaltenstendenz zu beschreiben ist, die darauf gerichtet ist, andere Individuen und Sachen zu schädigen, zu schwächen oder in Angst zu versetzen“ (S. 52).
Eine ähnliche Definition findet sich bei Ortner & Ortner (1995). Hiernach kann man
Aggressivität im übergreifenden Sinn als ein Verhalten verstehen, das unter dem dranghaften Antrieb steht, Personen oder Objekte in verletzender oder zerstörerischer Absicht anzugreifen und ihnen verbal oder körperlich Schaden zuzufügen, der sich bei Personen psychisch oder physisch auswirken kann (S. 110).
Wie erwähnt halte ich diese Definitionen eher für den Begriff des aggressiven Verhaltens geeignet.
5.2.2 Psychoanalytische Ansätze
Zur Erklärung der Entstehung werden verschiedene psychoanalytische Ansätze herangezogen. Nach Freud ist aggressives Verhalten auf einen Aggressions-Trieb zurückzuführen. „Ein Trieb ist eine aus dem Organismus stammende, also biologisch vorgebene, konstante Kraft, die ein bestimmtes Ziel verfolgt, nämlich Befriedigung zu finden“ (Kutter, 1993, S.12). Diese Manifestation aggressiven Verhaltens als destruktivem Trieb stellt aber einen Widerspruch zum Selbsterhaltungstrieb des Menschen dar. Meiner Alltagsbeobachtung nach ist aggressives Verhalten vorwiegend als Instrument des Selbsterhaltungstriebs zu sehen.
Auch Mitscherlich (vgl. Kutter, 1993) sieht Aggression als Trieb und unterscheidet in unkontrolliertes Verhalten und ziel- und sachgerechte Umsetzung, gibt der Aggression also die zwei Dimensionen der Unproduktivität und der Produktivität.
Fromm (vgl. Kutter, 1993) nuanciert gutartige und spielerische Aggression mit dem Ziel der Selbsterhaltung und bösartige Aggression, die nach Destruktion strebt.
Abschließend ist Pao (vgl. Kutter, 1993) zu erwähnen, welcher die Aggression – ähnlich der Angst – für ein Signal hält, für ein Mittel, um die Beziehung zu einem anderen Menschen aufrecht zu erhalten.
5.2.3 Verhaltensbiologischer Erklärungsversuch
Hassenstein gibt an, daß aggressives Verhalten mannigfaltige Ursachen haben kann. So kann es etwa in einer als auswegslos erlebten Situation auftreten, der „sozialen Exploration“ (Kutter, 1993, S. 14) dienen oder ein Spielbedürfnis befriedigen.
5.2.4 Psychologische und soziologische Ansätze
In der akademischen Psychologie wird Aggression nicht als Trieb gesehen, sondern als Folge von Frustration, also als Lernvorgang. Sie tritt nicht nur auf, wenn daß Individuum eine Situation selbst als bedrohlich empfindet, sondern auch wenn es sich mit einer Autorität indentifiziert, welche aggressives Verhalten vom Individuum fordert. Je autoritärer die Autorität auftritt, desto größer wird die Distanz des Opfers vom aggressiv Handelnden.
Aus psychoanalytischer Sicht ist hinzuzufügen, daß „ängstliche, selbstunsichere und oft ohnmächtig wütende Menschen sich besonders leicht zu aggressivem Verhalten verführen lassen […]“ (Kutter, 1993, S. 15), besonders dann, wenn sie in äußerer Not leben.
5.2.5 Frustrations-Aggressions-Hypothese
Wie bereits angeschnitten, kann aggressives Verhalten die Folge von Frustration sein.
Die Frustrations-Aggressions-Hypothese wurde vor allem von Dollard und Miller (1939) an der Yale-Universität repräsentiert. „Sie verstehen Aggression als ein reaktives Verhalten, das auf eine vorausgehende Störung einer zielgerichteten Aktivität eines Menschen (Frustration) zurückgeht“ (Ortner & Ortner, 1995, S.112). Sie gingen vorerst davon aus, daß jede Frustration eine Aggression erzeuge, jede Verhinderung einer aggressiven Handlung eine Frustration bedeute und jeder aggressive Akt den Anreiz zu weiteren Aggressionen verringere. Diese Hypothese fand aber keine Bestätigung, so daß die Theorie später derart gefaßt wurde, „daß Frustration normalerweise nicht direkt Aggressivität auslöst, sondern Angst. Die spontane Reaktion des Individuums, die Angst abzuwenden, ist dann aggressiv“ (Leinhofer, 1991, S. 53)
5.2.6 Opfer-theoretische Erklärung
Kutters (1993) Opfer-Theorie geht von der Frage aus, wie die Ignoranz in unserer Gesellschaft Tatsachen gegenüber bestehen kann wie beispielsweise dem Tod tausender Menschen durch Drogenmißbrauch oder bei Verkehrsunfällen und politischer Krisenherde in der ganzen Welt, die zur Völkerdezimierung führen. Kutter vermutet, daß psychoanalytisch betrachtet hinter diesem Verdrängungsprozeß Ängste stecken, sich dieser kollektiven Aggression bewußt zu werden, ihre Ursachen zu erforschen und die Umstände zu erneuern. Er stellt die These auf, daß die toten Drogenabhängigen und die Verkehrstoten unbewußt eine […] Opferfunktion haben, um die sonst in der Gesellschaft störenden Aggressionen in Schach zu halten. Dadurch, daß andere stellvertretend für uns töten oder zumindest das Getötet-Werden zulassen, brauchen wir uns selbst nicht aggressiv zu fühlen. […]
Auch die latenten Sympathien vieler Menschen in verschiedenen Ländern für die kriegerischen Maßnahmen im Golfkrieg lassen eher auf eine latente Sympathie mit Aggression schließen als auf das Fehlen solcher latenten Aggressionen (S. 17).
5.2.7 Zusammenfassung der Hauptentstehungstheorien und ein eigener praxis-bezogener integrativer Ansatz
Kutter (1993) setzt eine biologisch vorgebene Aggressionsbereitschaft als Trieb voraus. Die Entwicklung dieses Triebes hängt von der Interaktion der Bezugspersonen mit dem Individuum ab. Die Bezugspersonen werden psychoanalytisch gesprochen als Objekte bezeichnet. Signalisieren diese Objekte Einfühlungsvermögen und Identifikationsbereitschaft, kann die Aggressions-bereitschaft in die Persönlichkeit integriert werden und diese als Antriebskraft und Selbstsschutzfunktion bereichern. Verursachen die Objekte demhingegen einen Mangel oder sogar eine Schädigung am Individuum, führt die Nichtintegration des Aggressionstriebes in die Persönlichkeit der Aggressions-Frustrations-Hypothese ent-sprechend zu reaktiv aggressivem Verhalten, delinquentem Verhalten und in höchster Stufe zu Grausamkeit.
Das Resultat ist dabei umso ungünstiger für die eigene Person und die Umwelt, je weniger positiv die Ich-Entwicklung verlaufen ist, d. h.: je weniger die Person Gelegenheit hatte, durch Identifizierung mit positiven Vorbildern eine gesunde Persönlichkeit aufzubauen (S. 18f.).
M. E. ist Aggressivität ein natürliches Potential eines Menschen, das sich im Verlaufe der Lebensgeschichte unterschiedlich stark entfaltet, je nach den Erfahrungen, die ein Mensch macht. Aggressives Verhalten tritt als Reaktion auf eine Autorität auf, wenn diese nicht als natürlich anerkannt werden kann, sondern als Druck empfunden wird. Abgesehen von Naturgewalten gibt es m. E. keine natürliche Gewalt im Sinne eines Triebes.
Leitendes Erziehungsverhalten erscheint mir in zu reflektierendem Maße sinnvoll, da es dem Kind Hilfestellungen gibt, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Erziehungsverhalten ist aber stets zu hinterfragen, und Reglementierungen sind dem Kind zu erklären. Dann kann ein Kind seine Grenzen als sinnvoll akzeptieren lernen, und der Drang, sich gegen die Erziehenden zu wehren, verringert sich – wird sich aber nicht auflösen lassen, da es der Sozialisationsprozeß mit sich bringt, daß Selbstbeschränkungen notwendig sind, Hilfen bei der Selbstentfaltung alleine nicht ausreichen.
Dort, wo die Selbstbeschränkung durch die Erziehenden aber zu stark wird, hat die professionelle Pädagogik einzugreifen, und die Selbstentfaltung des Individuums zu fördern, um hierdurch beispielsweise Aggressionsprophylaxe zu leisten.
5.3 Schulische und außerschulische Ursachen
Durch die Zusammenstellung verschiedener Erklärungsansätze ist der Einfluß der Umwelt des Menschen auf sein möglicherweise aggressives Verhalten deutlich geworden. Um die Theorien für die Praxis anwendbar zu machen und den Blick auf konkrete Handlungsmöglichkeiten zu lenken, ist es sinnvoll, die Lebenswelt der Kinder zu beleuchten und daran zu verdeutlichen, inwiefern die äußeren Bedingungen aggressionsfördernd sind.
5.3.1 Außerschulische Ursachen
Im außerschulischen Bereich als einzige Ursache das Fehlverhalten von Eltern und anderen Erziehungspersonen anzunehmen, wäre eine extrem verkürzte Sichtweise. So wachsen die Kinder in einer von Massenkommunikationsmitteln geprägten Gesellschaft auf, die durch die gehäufte Darstellung von aggressiv getönten Handlungen zur Desensibilisierung gegenüber destruktiven Geschehnissen beiträgt. Ebenso ist der Erwerb aggressiver Verhaltensweisen im Sinne der Lerntheorie hierdurch gegeben (Lernen am Modell).
Durch mangelnde Unterstützung bei der Verarbeitung wahrgenommener und auch aktiv durchlebter Szenen durch verantwortliche Erwachsene wird „ein Abbau destruktiv-aggressiven Sozialverhaltens […] erschwert“ (Ortner & Ortner, 1995, S. 113).
Eine weitere mögliche Ursache für Aggressivität stellt ein Mangel an Vermittlung von Selbstwertgefühl dar. Hiermit ist nicht gemeint, daß der „kindliche Größenwahn“ nicht situativ bedingt eingeschränkt werden müsse, denn egozentrische und anmaßende Kinder und Jugendliche können zu aggressiv gefärbten Übergriffen neigen aus dem Gefühl heraus, „etwas Besseres zu sein“.
Man rufe sich an dieser Stelle „Hänseleien“ als Form verbaler Aggression vor Augen, die ihrerseits wieder aggressives Verhalten beim Opfer hervorrufen, welches dann zum Täter werden kann – Prinzip der Weitergabe.
Ortner und Ortner (1995) haben weitere mögliche Ursachen in folgender Form zusammengestellt
• mangelnde Zuwendung durch die Mutter (Erziehungsperson) im Kleinkindalter <vgl. psychoanalytische Theorien>
• pädagogische Fehler während der Trotzphase des Kindes (verständnislose Zwangsmaßnahmen)
• das Erleben von Frustrationen wie mangelnde Anerkennung, Verletzung der Gerechtigkeitsgefühle, Angst […], körperlicher Schmerz, Einschränkung des Aktivitätsbedürfnisses)
• Entwicklungskrisen oder aktuelle Schwierigkeiten des Kindes
• Aktivitätsüberschuß (Langeweile, Unausgefülltsein)
• soziale Ablehnung der Familie des Kindes
• fehlendes oder mangelhaftes Selbstwertgefühl des Kindes
• gesundheitliche Schädigungen […]
• eine schulfeindliche Haltung der Eltern, die sich auf das Kind überträgt (Projektion) […]
• ständige Demütigung […]
• Erfolgsbestätigung durch Gewaltanwendung
• Das Kind hat Abscheu vor sich selbst. Deswegen rächt es sich an der Umwelt oder entwickelt selbstzerstörerische Tendenzen (Selbstaggression).
• Aggression als an die Umwelt gerichtete Bitte, die eigene Person zu bejahen
• Vernachlässigung (S. 113 f.)
5.3.2 Schulische Ursachen
Die Schulklasse als Organisationsform per se ist ein aggressives Potential, da hier Menschen verschiedenster Facette (Kinder und LehrerIn) eine Zwangsgemeinschaft bilden. Die SchülerInnen haben keinerlei Einfluß auf den Interaktionsstil des/der LehrerIn und auf die Berücksichtigung ihrer persönlichen Neigungen, ebenso muß der/die LehrerIn mit einer meist heterogenen Gruppe umgehen, deren Individuen durchaus nicht unbedingt Sympathien auslösen – dieses vor dem Hintergrund eines Lehrplanes, welcher konkrete Ziele und Zeitvorgaben liefert.
Nach Reiser (1975) „entwickelt sich aggressives <SchülerInnen>verhalten durch die fehlerhafte Reaktion auf Drohungen und Strafen“ (S. 32), die ihrerseits unangemessen sein können, womit die Verteidigungsreaktion des/der SchülerIn zu rechtfertigen wäre;. soll heißen, daß auf die Angemessenheit des Verhaltens auf beiden Seiten des Autoritätsgefälles zu achten ist.
Weitere Ursachen nach Ortner & Ortner (1995) können sein
• Versagenserlebnisse
• das Suchen nach Bestätigung seitens der Mitschüler<Innen> in einer Außenseiter<Innen>position
• innerhalb der Schulklasse existierendes Konkurrenzdenken oder Leistungsdruck
• Frustrationen, die durch Übergewichtung kognitiven Lernens, durch Überforderung […], Einschränkung des Bewegungsbedürfnisses […] entstehen
• fehlende Lernmotivation (z. B. durch übermäßige Fremdbestimmung)
• der Wunsch nach Zuwendung und Anerkennung durch den</die> Lehrer<In> […]
• eine mangelnde Geborgenheitsatmosphäre der Schule […]
• aggressive Reaktionen des Kindes mit einer grundsätzlichen Abwehrhaltung aus dem subjektiven Gefühl des Angegriffen-Seins heraus, also auf Grund falscher Wahrnehmung sozialer Geschehnisse in der Schule (S. 114 f.)
5.4 Ausprägung aggressiven Verhaltens
Aggression kann sich auf verschiedene Weise äußern und somit von der Umwelt in Form von Verhaltensweisen wahrgenommen werden. Es ist nach Leinhofer (1991) und Albert (1993) zwischen zwei Ebenen, nämlich der physischen und verbalen Aggression zu unterscheiden.
Ortner & Ortner (1995) klassifizieren die Vielfalt der Ausprägungen aggressiven Verhaltens differenter wie folgt. Die physische Aggression kann gegen Personen oder Sachen gerichtet sein und äußert sich in Form von „Rohheitsdelikten wie Schlagen, Beißen, Prügeln, Stoßen, […]“ (S.110), wobei es sich bei der objektgerichteten Aggression um eine Übertragung derart handelt, daß „Aggression, die sich ursprünglich auf einen Menschen richtete, auf ein wehrloses Objekt übertragen wird, da dadurch ein Erfolgserlebnis (z. B. eine Entlastung von einem inneren Druck) vorprogrammiert ist“ (S. 110 f.).
Neben der verbalen Aggression der Art des Beschuldigens, Beschimpfens, Herabsetzens, etc., welche nach Kiener (1983) fast ausschließlich durch Beobachtungslernen erworben ist, wird die expressive Aggression, die sich in Gestik, Mimik und Stimmlage äußert (ausspucken, Fäuste ballen, Zunge herausstrecken etc.) genannt (vgl. S. 110). Weitere Formen sind die Selbstaggression, bei der sich die Aggression sekundär gegen die eigene Psyche und Physis richtet, um den gesellschaftlichen Forderungen nach aggressionslosem Verhalten äußerlich gerecht zu werden.
Bei der verdeckten Aggression hingegen „werden aggressive Tendenzen zu überdecken versucht, die aggressive Einstellung ins Gegenteil verkehrt, indem man sich besonders liebenswürdig und höflich gibt oder sich jemandem besonders zuwendet“ (S. 111).
Bei der zum Abschluß angeführten Form der sozialisierten Aggression entfällt der destruktive Charakter. Zu verstehen sind hierunter laut Kiener Durchsetzungskraft, Arbeitswut, Zivilcourage etc.. M. E. aber haben diese Eigenschaften keinen latent aggressiven Charakter, da sie niemanden bewußt zu schädigen trachten, es sei denn, man versteht beispielsweise unter Durchsetzungskraft „über-Leichen-gehen“. Die genannten Begriffe sind lediglich auf das Stammwort a-gredi (lat.: auf etwas zugehen) zu beziehen, welches progressiv getönt ist, jedoch nicht auf die heute geläufige Definition des Begriffes Aggression (vgl. oben).
Nicht geklärt ist bislang, ob es sich bei aggressiv getönten Vorstellungen und Träumen um echte Aggressionen handelt.
5.5 Aggressives Verhalten als Botschaft
Verhaltensprobleme können nach Leinhofer (1991) nicht ausschließlich, m. E. sogar nur peripher, als Träger von problematischen Verhaltensweisen festgemacht werden. „Verhalten zeigt sich immer als ein Appell, eine Anfrage, eine Manifestierung von Beziehungen, eine Verdeutlichung von emotionalen Störungen“ (S. 11). Somit haben Verhaltensschwierigkeiten einen „kommunikativen Sinn“ (S. 12).
Um Kindern die Möglichkeit zu geben, einen positiven Kontakt zu ihrer Umwelt herzustellen, ist es angezeigt, diesen Aufforderungscharakter von Verhaltensweisen zu erkennen und dieser Erkenntnis entsprechend zu intervenieren. Hierzu müssen die Verhaltensweisen in einem detaillierten Beobachtungsprozeß wahrgenommen und mit den „eigenen Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühlen und Denkprozessen in Verbindung“ (Leinhofer, 1991, S. 11) gebracht werden.
Die Gefahr, die Verhaltensschwierigkeiten des Kindes in den Vordergrund der Betrachtung zu rücken und damit diejenigen, für die diese Verhaltenssignale von Bedeutung sind, in den Hintergrund zu stellen, muß erkannt und ihr entgegengewirkt werden. Denn Erwachsene, die Verhaltensweisen nicht hinreichend beobachten und erkennen, reagieren oftmals falsch und deswegen erfolglos.
„Die Behebung von Verhaltensproblemen hat demzufolge nicht nur mit dem Träger der Problemverhaltensweisen etwas zu tun, sondern mindestens in gleicher Weise mit denen, die die Probleme als Probleme einschätzen und sich oftmals im Verlauf von langjährigen Erfahrungen ineffektive Reaktionsmuster zurechtgelegt haben“ (Leinhofer, 1991, S. 13); meint hier ungeschulte Erziehungspersonen, die zu beraten sind, und deren Verhalten und dessen Auswirkungen auf das Kind von professionellen ErzieherInnen zu kompensieren sind bzw. (trivial, aber der Vollständigkeit des Gedankenganges wegen erwähnt) ein unreflektiertes Verhalten, das in der professionellen Arbeit nicht auftreten darf.
Es ergeben sich zusammenfassend zwei wichtige Vorbedingungen jeder Intervention:
das Wahrnehmen und Beobachten und das vernünftige Beurteilen. Bevor auf der Verhaltens- und Handlungsebene nach Möglichkeiten gesucht wird, mit Verhaltensschwierigkeiten umzugehen, müssen wir uns demnach zuerst mit Beobachtungen und Wahrnehmungen und kognitiv-geistigen Beurteilungen von Verhaltensproblemen beschäftigen. Erst dann ist die Grundlage geschaffen, Zusammenhänge und Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten zu untersuchen (Leinhofer, 1991, S. 15).
5.6 Interventionsmöglichkeiten
Da es verschiedene Formen und Typen von Aggressionen gibt, ist auch die Palette möglicher Reaktionen des/der PädagogIn mit dem Ziel, dem Kind die Möglichkeit zu eröffnen, mit seinen Emotionen bewußt und nicht feindlich orientiert umzugehen, breitgefächert.
Im folgenden sind mögliche Handlungsansätze dargestellt, welche alle auf empathischem Empfinden beruhen, und anschließend verschiedene Aggressionstypen unterschieden und Interventionsmöglichkeiten hierauf bezogen.
5.6.1 Konkrete Hilfen zur Aggressionsbewältigung und ursachenkompensatorisches Vorgehen
Pauschalisierende Konzepte sind für den Umgang mit Aggressionen nicht möglich, da Ursachen und Ausprägungen weit differieren können, aber einige Grundüberlegungen fasse ich hier zusammen.
Zu Beginn der Verhaltensmodifikation ist eine umfassende Exploration der Faktoren notwendig, welche aggressives Verhalten auslösen. Eine oft auftretende Ursache ist ein mangelhaft ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Somit fühlt sich das Kind oft gedrängt und verteidigt sich aggressiv, zu planvollen Entscheidungen ist es nicht mehr in der Lage. Eng verknüpft mit dem Selbstwertgefühl ist nach Ortner und Ortner (1995) die Frustrationstoleranz.
Es ist also das Selbstwertgefühl solcher Kinder zu steigern, indem der/die ErzieherIn ein „sozial-integratives“ (S. 116) Erziehungsverhalten zeigt, welches autoritäre Anteile und Elemente eines Laissez-Faire-Stiles konsequent vereint. Somit wird das Kind weder durch ein Autoritätsübermaß befangen, noch durch den Laissez-Faire-Stil der Aufbau einer Frustrationstoleranz verhindert.
Neben der Kompensation der Ursache ist dem Kind die Chance zu geben, eine konstruktive Handhabung der Aggressivität (Emotion und Verhalten) zu erlernen. Keinesfalls dürfen Aggressionen verdrängt werden, um nämlich eine mögliche Entstehung von Neurosen und Psychosen zu vermeiden. Hierzu gehört auch, daß der/die ErzieherIn die eigenen Aggressionen bewußt wahrnimmt und derartig damit umgeht, daß sein/ihr Verhalten einen Modellcharakter für das Kind hat.
Eine verbale Aufarbeitung einer aggressiv-impulsiv verlaufenden Krise auf der Metakommunikationsebene ist unerläßlich und erfahrungsgemäß mit sehr jungen Kindern (je nach Entwicklungsstand ca. drei bis dreieinhalb Lebensjahre alt) möglich. „Lernhilfen zur Anerkennung <hinterfragter> sozialer Gegebenheiten und zur Auseinandersetzung mit ihnen sind grundlegend für die Bewältigung von Aggressionstendenzen“ (Ortner & Ortner, 1995, S. 117).
Der Ansatz der Verhaltensmodifikation basierend auf Erkenntnissen und Annahmen der Lernpsychologie ist eine ebenfalls in Betracht zu ziehende Interventionsmöglichkeit. Hierbei wird mit Lob und Tadel, Anerkennung und Strafe operiert. Hilfreich ist dieses Vorgehen vor allem bei Kindern, die mit ihrer Aggression etwas durchzusetzen versuchen, nicht so aber bei den oben beschriebenen selbstwertunsicheren Kindern.
Auch sehe ich die lerntheoretischen Vorgehensweisen in der Richtung als problematisch an, als sie sehr leicht dazu verleiten, den Eigenwillen des Kindes zu brechen und sein Verhalten zu manipulieren. Es erscheint sinnvoll, am Anfang der Intervention aggressions-auslösende Faktoren um das Kind zu minimieren und es erst im Verlaufe der gemeinsamen Arbeit daran zu gewöhnen, widrige Bedingungen akzeptieren zu lernen.
Im folgenden sind einige spezielle Vorschläge zur Veränderung aggressiver Verhaltensweisen angeführt, welche als Denkansätze nicht so aber als Rezepte zu verstehen sind (vgl. Ortner & Ortner, 1995; Leinhofer 1991; Weigert, 1987; Werning, 1989):
• dem Bewegungsdrang des Kindes Entfaltungsmöglichkeit einräumen
• eine interpersonale Beziehung zwischen Kind und ErzieherIn aufbauen, auch wenn dieses eine enorme emotionale Mehrarbeit bedeutet
• humorvolles Auffangen aggressionsgeprägter Situationen
• keine Gegenaggression
• akzeptierendes ErzieherInnenverhalten
• Vermeidung von Überforderungssituationen
• Kanalisationsmöglichkeiten für aggressive Impulse schaffen
• kreatives Gestalten
• Konsequenz in der Methode, es sei denn sie erweist sich als ungeeignet (ständige Reflexion !!!)
• Entspannungsverfahren
• Erziehung zum Frieden: Konflikte genau abklären und benennen; mögliche Lösungsalternativen entwickeln; Entscheidung für die beste Lösung; abklären, welcher Teilnehmer welche Entscheidungen ausführen soll und kritische Bewertung der vorangegangenen Schritte
• Sicherheitswünsche des Kindes erfüllen
• Wunsch des Kindes nach Autonomie respektieren, nach Möglichkeit wenig einschränken, Einschränkungen erklären
5.6.2 Maßnahmen bei verschiedenen Aggressionstypen
Um die Suche nach der geeigneten Intervention zu vereinfachen, kann eine Typologisierung von verschiedenen Aggressionstypen hilfreich sein. Sie stellt aber kein starres Gerüst, an dem das pädagogische Handeln „kleben“ bleiben darf. Sie ist vielmehr als Beobachtungshilfe zu verstehen, da sie es erlaubt, „die Vorgänge so zu ordnen, daß sie einerseits die Komplexität der Zusammenhänge berücksichtigt, andererseits aber auch ein gewisser Überblick gewährt wird“ (Dutschmann, 1995, S. 8). So ist die Hypothesenbildung erleichtert.
Dutschmann (1995) hebt drei verschiedene Aggressionstypen voneinander ab, wobei er als Einteilungskriterium das Ausmaß der emotionalen Beteiligung bzw. die Höhe der Beteiligung von Erregung bei einem Verhalten zugrunde legt.
Typen
Beim Typ A (Instrumenteller Typ) wird das Verhalten als Instrument mit der Intention, ein Ziel zu erreichen, eingesetzt. Durch Erfolgserlebnisse wie das Erzielen von Aufmerksamkeit, Zuwendung, Erzeugen von Aktion etc. wird das Verhalten aufrecht erhalten. Die hier zutreffende Aggressionsdefinition lautet: „Aggression vom Typ A ist der Versuch, gezielt und/oder geplant anderen Menschen zur Erlangung eines persönlichen Vorteils Schaden zuzufügen“ (Dutschmann, 1995, S. 7).
Bei Typ B (Emotionstyp) ist das aggressive Verhalten durch Abwehrgefühle gegen Situationen begründet. Es handelt sich also um eine Reaktion, da sich die Gefühle eher automatisch und reflexartig einstellen. Diese Emotionen können sich negativ auf Problemlöseprozesse auswirken. Hier trifft die folgende Definition zu: „Aggression vom Typ B ist ein durch Emotionen bzw. Erregung hervorgerufenes und/oder begleitetes Verhalten zur Reduktion von Spannung und zur Abwehr Reize, wobei die Schädigung eines anderen in Kauf genommen wird“ (Dutschmann, 1995, S. 7).
Beim Typ C (Erregungstyp) ist im Extremfall keine Steuerung möglich, da die höchste Erregung vorliegen kann. Zu definieren ist Aggression hier als ein „durch hohe Erregung hervorgerufenes, weitgehend ungesteuertes Verhalten mit schwerer Gefährdung von Personen und Sachen“ (Dutschmann, 1995, S. 7).
• erregungsfördernde Bedingungen: Nichtbefriedigung der Grundbedürfnisse des Kindes, körperliche Probleme (z. B. Müdigkeit), intellektuelle Defizite, durch die das Kind der Situation nicht gewachsen ist, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Streß, Kontextbedingungen (z. B. Gruppe, Personen etc.), Bedingungen, die sich aus Einstellungen und Beziehungsmustern ergeben, aktuelle kritische Stimuli (z. B. autoritäre Verhaltensweisen, Beleidigungen, Grenzsetzung etc.)
• Auswirkung von Erregung auf Erleben und Verhalten: veränderte Reizverarbeitung, Unvorhersehbarkeit, Abbau von Hemmungen, Primitivreaktionen, Ansteckung und Verringerung der Konfliktbewältigungskompetenz
Maßnahmen
Die Verschiedenartigkeit dieser Typen läßt die Notwendigkeit unterschiedlicher Interventionen erkennen. So sind bei Typ C wegen der vergleichsweise höchsten Erregung Deeskalationstaktiken am wichtigsten, bei Typ B ist der Umgang mit frustrierenden oder ablehnungserzeugenden Situationen zu erarbeiten und Typ A sind die Erfolgserlebnisse zu entziehen.
Zusammengefaßt finden sich bei Dutschmann (1995) folgende mögliche Maßnahmen als Anregung:
Bei Typ A
• Erfolgserlebnisse entziehen (ignorieren, isolieren, mit Gelassenheit, humorvoll reagieren, Triumpfgefühl nehmen, Opfer belohnen etc.)
• Strafreize setzen: Strafen sollen möglichst der Wiedergutmachung dienen, wobei zwischen sanktioniertem Verhalten und Strafe ein Zusammenhang für das Kind erkennbar sein muß. Ein Strafreiz soll nach Möglichkeit direkt auf das Verhalten folgen. Konsequenz ist notwendig, da ein Ausbleiben bereits erwarteter Strafe zur Verstärkung des abweichenden Verhaltens führen kann.
• Alternativverhalten fördern, indem man alternatives Verhalten vorschlägt (Einsicht auf kognitiver Ebene schafft, daß anderes Verhalten – auch für das Kind- sinnhafter ist), und Veränderungen bemerkt, anerkennt, lobt und belohnt. Es darf gerade anfangs keine Perfektion vom Kind erwartet werden, d. h. kleine Erfolge überhöhen.
Bei Typ B
• negative Gefühle, Ängste etc. müssen abgebaut werden. In der Erregungsphase muß man beruhigend einwirken. In Streßsituationen braucht das Kind Unterstützung und Verständnis zur Bewältigung der Situation.
• Grundstrategie: 1. entspannen, 2. Kreisprozesse unterbrechen, 3. Kommunikation fördern, 4. verstehen, 5. Helfen, 6. aufarbeiten
• Einzelmaßnahmen (Beispiele):
zu 1. und 2.: körperliche Nähe, selbst Ruhe ausstrahlen, erregungsmindernde Bewertung des Problems liefern, verständnisvolle Wärme, Energien sinnvoll umleiten und taktvoller Humor;
zu 3.: Vermeidung von Kommunikationskillern wie Vorwürfen etc., akzeptierende Haltung, Interesse zeigen;
zu 4.: zuhören statt diskutieren, Schweigen konstruktiv nutzen, geschickt Fragen stellen, Gedanken und Gefühle des Kindes in Worte fassen, problematisches Ereignis beschreiben lassen;
zu 5.: eigene Gedanken und Gefühle in Worte fassen, rationale Konfliktlösung, Tips und Hilfen zur Problemlösung;
zu 6.: zugrundeliegende Probleme und Konflikte lösen oder verringern
Bei Typ C:
• auffangen in der Eskalationsphase, spätestens in der Phase der höchsten Erregung deeskalieren, zur Entspannungsphase führen
• Grundregeln f. d. Umgang mit hocherregten Menschen: präzise Beobachtung, Bieten von beruhigenden, Vermeiden von provozierenden Signalen (Menge der Reize reduzieren, Frustrationen und Irritationen vermeiden, keine Provokationen und Drohungen), für Sicherheit sorgen (sichere Fluchtwege, Sicherheitsabstand halten, potentielle Waffen entfernen)
• Strategien und Einzelmaßnahmen in der Eskalationsphase: Dem Kind wird nahegelegt, die Situation so zu interpretieren, daß sie nicht mehr als frustrierend oder bedrohlich empfunden wird (freundlich reagieren, aggressionsmindernde Erklärungen und Interpretationen, Eingehen auf Gefühle und Erlebnisinhalte, Ich-Botschaften); Bewältigungshilfen (Tips zum Erreichen des Ziels, Hilfe bei der Wahrung des Gesichtes); Versuch, sich anbahnende Erregungskreisläufe zu unterbrechen (Trennung von Kontrahenten, Ausweichmöglichkeiten bieten, Gespräch in Gang halten: Interesse demonstrieren, nicht auf das Kind einreden, sich auf die Sprache des Kindes einstellen, „Warum“-Fragen vermeiden „Was-Wie-Wann-Wo“-Fragen stellen, vermeiden, etwas in die Kinder hineinzufragen, evtl. Bezugspersonenwechsel, kontrolliert ausagieren lassen (körperliche Betätigung); vermitteln (rechtzeitig eingreifen, Kontrolle bewahren, Regeln einhalten, entemotionalisieren, Verständnis und Einfühlung fördern, Deutlichkeit und Klarheit herstellen, akzeptable Lösungen finden (mit dem Kind!
• Strategien und Einzelmaßnahmen in der Phase der höchsten Erregung: Kind in Ruhe lassen, Kind isolieren, festhalten (sehr fragwürdig wegen der Autonomieverletzung und auch bei körperlich überlegenen Menschen, m. E. zu verwerfen, da auch aggressionsfördernd !!!)
• Strategien und Einzelmaßnahmen in der Entspannungsphase: wiedereinsetzende Ansprechbarkeit der Kinder, oft Tränen, dann Trost, Körperkontakt, mit verständnisvollen Äußerungen Entspannungsprozeß unterstützen, Gespräch über das Verhalten, konstruktive Konfliktverarbeitung
5.7 Praktische Umsetzung anhand exemplarischer Szenenskizzen
5.7.1 Aggression als Reaktion auf Leistungszwang
Als Judith [8;11] zu ihrer ersten Förderstunde gebracht wurde, hatten wir uns noch nie gesehen. Das ist ungewöhnlich, denn im allgemeinen wird vor der Anmeldung ein Erstkontakt zwischen Pädagogin und Kind hergestellt, um spontane Antipathien erkennen und eine andere Person auswählen zu können. Wie ich später erfuhr, hatte Judiths Vater eine Vorstellung der Pädagogin als Zeitverschwendung empfunden und abgelehnt, obwohl es Judiths Wunsch war.
Sie kam nicht freiwillig ins Institut mit der Hoffnung, daß ihr im schulischen Lernen geholfen würde, sondern stand von ihrem Vater mit nach hinten gedrehtem Arm vor der Tür und versuchte schreiend, sich zu befreien, wobei sie den Wunsch äußerte, sofort nach Hause gebracht zu werden. Die Leiterin des Instituts und der Vater begannen beide, auf Judith einzureden, wobei der Vater Stubenarrest und Ausschluß vom Abendessen androhte. Als es Judith gelang, sich von ihrem Vater loszumachen, fing sie an, auf ihn einzuschlagen.
Ich bat die Leiterin, sich aus der Situation zu entfernen, lächelte Judith an und signalisierte ihr Zeit, sich zu entscheiden, in dem ich beiläufig in einem Ordner blätterte und ihr mitteilte, daß ich nach einem Arbeitsblatt suchen würde, daß wir bearbeiten könnten, bevor wir etwas spielen. Als ich feststellte, daß ihr Aggressionsschub nicht so stark war, daß sie unansprechbar wäre, gestand ich ihr zu, keine Lust zur Therapie zur haben und auch daß sie ja nicht wisse, was auf sie zukomme; lenkte meine Rede dann aber in die Richtung, ihr vorzuschlagen, „es einfach ‘mal auszuprobieren, wie es bei uns so läuft; wir könnten eventuell eine Menge Spaß miteinander haben“. Wohl durch die gelassene und verständnisvolle Weise, wie ich mit Judiths Verhalten umging, bekam ich von ihr einen Vertrauensvorschuß entgegengebracht, und sie kam vorsichtig in das Institut, das wir gemeinsam besichtigten.
Ich erklärte ihr, daß wir nicht die gesamte Stunde über auf dem Papier arbeiten würden, weil sich niemand solange konzentrieren könne. Daraufhin entgegnete sie barsch, sie wolle gar nicht üben, da sie alles bereits könne, nur keine Lust habe, und wollte gleich etwas spielen. Ich entgegnete ihr, daß sie sich auf eine „normale“ Teststunde festgelegt habe, und bat sie, sich das Arbeitsblatt ersteinmal anzuschauen. Dieses tat sie nach einem weiteren viertelstündigen Dialog, in den ich verständnisvolle und ruhige Wortbeiträge einbrachte.
Auf weitere Details soll an dieser Stelle verzichtet werden.
Es zeigte sich im Laufe der ersten Sitzungen, daß Judith in der Tat gut Lesen und Rechtschreiben konnte. Sie selbst gab zu, daß sie aber in der Schule keine Lust dazu habe, weil sie immer gezwungen würde. Sie schreibe aber gerne Briefe. Im Verlauf der Arbeit mit Judith erklärte ich ihr, daß es am System liege, daß ihre Deutschlehrerin sie soviel schreiben ließe, da sie ihr ein Zeugnis schreiben „müsse“, und daß Judith, wenn sie erwachsen ist, zwar vielleicht eine Möglichkeit hätte, an diesem System etwas zu verändern, das aber wohl sehr schwierig werde. Ich signalisierte ihr stets Verständnis, daß sie keine Lust zum Rechtschreiben habe, verdeutlichte ihr aber die Notwendigkeit, ihren Unmut, wenn auch unter Murren, zu überwinden.
Judith faßte sehr bald soviel Vertauen, daß sie mir viele persönliche Schwierigkeiten anvertraute, die sie in der Familie und Schule habe. Letztendlich gab sie mir das positive Feed-Back, ich sei die einzige gewesen, die sie nicht gleich böse behandelt habe. Ein, wie ich finde, betrübliches Ergebnis, bedenkt man, auf wie viele PädagogInnen Judith vorab getroffen war.
5.7.2 Aggression als Folge eines Minderwertigkeits- und Unterlegenheitsgefühls
Um die in Kapitel 5.7.1 beschriebene erfolgreiche und nahezu unproblematische Intervention zu relativieren, möchte ich in Kürze eine Darstellung von meinen Schwierigkeiten mit Leo geben.
Leo ist 12 Jahre alt und besucht eine Sprachheilschule. Seine Lehrerin hat den Eltern, von denen sich der Vater nicht um die Erziehung seiner Kinder kümmert, mehrfach nahegelegt, ihn in eine Verhaltensgestörtenschule umzuschulen. Gegen die letzte Aufforderung geht die Familie derzeitig gerichtlich vor.
Im Beratungsgespräch machte Leo auf mich einen ambivalenten, einerseits schüchternen, andererseits aber provokanten Eindruck, so drückte seine zusammengezogene Körperhaltung und sein nervöses Fingerspiel ebenso wie seine Unfähigkeit, meinem Blick in seine Augen standzuhalten, Unsicherheit aus, während er aber mehrfach verbale Attacken in meine Richtung verabreichte. Seine abschließende Bemerkung lautete: „Tja, denn komm’ ich hier ‘mal her, aber was du als Frau mir beibringen kannst, weiß ich ja nich’… .“ Seine Mutter entschuldigte diese Bemerkung damit, daß sein Vater Sinti sei, und in dieser Kultur „sehe man das eben so“. Ich antwortete eher lakonisch, daß wir sicher beide etwas voneinander lernen könnten und grinste Leo aufmunternd an.
Dahinter steckten zwei Motivationen: Zum einen wollte ich ihm das Gefühl geben, ihn zwar ernst zu nehmen, indem ich die Bemerkung nicht einfach unkommentiert ließ; zum anderen ziehe ich es in derartigen Situationen zum Zwecke meines Selbstschutzes vor, mich nicht provozieren zu lassen.
In diesem Beratungsgespräch wurde sehr deutlich, inwieweit es sich bei Verhaltensauffälligkeiten um Zuschreibungen handelt und inwieweit ein Kind auf ein bestimmtes abweichendes Rollenverhalten festgelegt wird.
So berichtete Leos Mutter in seiner Anwesenheit ausführlich über seine Vergehen an anderen SchülerInnen und kommentierte dieses Verhalten als „nun ‘mal Leos Eigenart“, woraufhin sich Leo lautstark verteidigte, er habe stets nur Angriffe abzuwehren, würde aber nicht angreifen, und doch von den LehrerInnen immer als Aggressor dargestellt. Diese schulinternen, eventuell von einer auf AusländerInnenfeindlichkeit basierenden selektiven Wahrnehmung geprägten Vorgänge konnte ich bislang nicht analysieren, da ich sie nur aus der möglichenfalls subjektiv geprägten Schilderung kenne. Plausibel erscheint mir Leos Darstellung schon, da er, wie oben erwähnt, einen eher schüchternen Eindruck macht, wodurch er leicht in eine Opferrolle geraten kann. Weiterhin ist er anderen Menschen in sprachlicher Hinsicht so ausgeprägt unterlegen ist, daß eine Verteidigung auf der physischen Ebene als zwar abweichend aus der Sicht der Gesellschaftsnorm ist, in seiner persönlichen Situation aber nachvollziehbar wird.
Schwierigkeiten bereitet mir der Umgang mit Leo dahingehend, daß er sich jeder Leistungsanforderung widersetzt, da er „sowieso nix raffe und nich’ wisse, wofür er meine Arbeit machen solle, er würde lieber Computer spielen“. Zudem turnt er ausgiebig auf sämtlichen Möbelstücken. Ich nehme an, daß es sich bei seinem Verhalten um eine projektive Identifikation mit ihm sonst überlegenen Personen handelt und er mich (un?)bewußt in die Rolle der unterlegenen Person zu drängen versucht.
Der derzeitige Stand der Intervention ist der, daß ich Leo zu Beginn jeder Stunde drei Arbeitszettel zur Auswahl stelle, von denen einer bearbeitet werden muß. Er erhält somit das Gefühl, den Ablauf ansatzweise mitgestalten zu dürfen. Seine Versuche, keinen der Zettel zu bearbeiten, blocke ich ab, um ihm seine Grenzen zu demonstrieren. Als Motivationsförderung habe ich den Computer als Arbeitsmittel miteinbezogen, da es um Rechtschreib-, nicht aber um Schriftübungen geht.
Da er mir in strategischen Spielen weit überlegen ist, gebe ich ihm durch häufiges Spielen solcher Spiele die Möglichkeit, sich überlegen zu fühlen, und modelliere ihm ein gemäßigtes Verhalten, mit scheinbarem Versagen (hier: Verlieren) umzugehen. Sicherlich ist diese Situation nicht unbedingt auf sein Schulerleben zu übertragen, denn es ist Leo mutmaßlich klar, daß ich ihm im Gesamten überlegen bin, aber daran ist aufgrund der Hierarchie wohl nichts zu ändern, auch wenn ich tunlichst darauf achte, ihn diese Hierarchie so wenig wie möglich spüren zu lassen. Denn Leo wird sehr autoritär erzogen, weswegen ich ihm einen weiten Entfaltungsraum einzuräumen versuche, was insofern nicht einfach ist, als er nach Grenzen zu suchen scheint, und hierbei in Clownerie abgleitet.
Letztendlich ist nach bereits zehn Stunden gemeinsamer Interaktion vorerst nur der äußere Rahmen für eine Intervention gesteckt.
6 LRS- und Dyskalkulieförderung bei manifesten Versagensängsten
Als seelische Behinderung treten alternativ oder begleitend zu (aggressiv-getönter) Leistungsverweigerung bei von Legasthenie (LRS) bzw. Dyskalkulie betroffenen Kindern oftmals manifeste Versagensängste auf.
Die Entstehungsbedingungen manifester Versagensängste sind mannigfaltig. So kommen manche Kinder bereits mit großem Leistungsangstpotential zur Schule. Sie wurden bereits in der vorschulischen Erziehung überfordert, oftmals durch überhöhte Ansprüche der Eltern, aber durch mangelnde Differenzierungen in der öffentlichen schulvorbereitenden Erziehung. Sie haben wenig Akzeptanz und Bestätigung erfahren, zu geringe Unterstützung bekommen, so daß sie sich hilflos fühlen.
Zu Beginn der Angstbildung steht die Lustlosigkeit des Kindes, welches sich keine Erfolgsaussichten ausrechnet. Dieses ist, biologisch und psychoanalytisch betrachtet, ein gesunder Selbstschutz bzw. dient dem Erhalt der positiven Ich-Repräsentanz. Wird vom sozialen Umfeld auf diesen Mechanismus aber unnachgiebig reagiert (keine Hilfe bzw. Verringerung der Leistungsanforderungen), entsteht eine Leistungsblockade durch Angst vor dem wiederholten Versagen und folgenden Repressionen. Diese Blockade hemmt das ohnehin schon rechtschreib- oder rechenschwache Kind global im Lernen, verstärkt also das Defizit, verhindert eine Leistungsverbesserung.
„Eine Person fühlt sich hilflos, wenn sie erlebt, daß sie ihre Lage nicht verbessern kann, ganz gleich, was sie tut. Hilflosigkeitserfahrungen machen Kinder, wenn sie erleben, daß sie – gleich wie sie sich anstrengen – die Zuneigung und Anerkennung ihrer Eltern nicht erlangen können und daß sie immer wieder schlechte Zensuren schreiben, ob sie für ein Fach lernen oder nicht“ (Kretschmann & Elspaß, 1992, S. 7). Die zeitliche Dauer dieses Prozesses und die Stärke der Angst hängt von der psychischen Disposition des Individuums ab.
Infolge des Versagenserlebens sinkt das Aktivitätsniveau der Kinder, verschlechtert sich ihr Problemlöseverhalten, trauen sie sich in anderen Bereichen auch keine guten Leistungen mehr zu (allg. Minderwertigkeitsgefühl), können sie Erfolge und Mißerfolge nicht mehr voneinander unterscheiden, d. h. sie nehmen Erfolge kaum mehr wahr. „Bei langen Zuständen erlebter Hilflosigkeit entwickeln sie Depressionen und/oder psychosomatische Symptome“ (Kretschmann & Elspaß, 1992, S. 7).
Zur Prävention und Reduktion von Mißerfolgsängsten muß das Lernangebot binnen-differenziert werden, d. h. jedem Kind muß ein auf seinen individuellen Leistungsstand zugeschittenes Angebot inkl. Hilfestellungen gemacht werden.
Wenn die Motivation am Lernen zu gering ist, muß die Attraktivität des Lerngegenstandes gesteigert werden. Hat das Kind kein Zutrauen in seine Leistungen, muß ihm die Möglichkeit eingeräumt werden, sich kompetent zu erleben.
Hierzu sind ausgiebige Modellierungen der Problemlösestrategien hilfreich. Auf Lernfortschritte muß eine deutliche Rückmeldung kommen.
Ist die Angst vor dem Versagen durch in der Vergangenheit beständiges Versagen verfestigt, müssen bisher als Versagen gedeutete Situationen eine entlastende Umdeutung erhalten.
Die handlungssteuernden Impulse sind Komponenten der Strategie des „Kognitiven Modellierens“ […]: Die Modellperson führt das gewünschte Verhalten vor […]. Normalerweise bleiben wesentliche Anteile der Handlung dem kindlichen Beobachter verborgen: die Gedanken, welche die Handlung steuern und begleiten. Die Modellperson spricht diese „Kognitionen“ laut aus und gibt dem Kind dadurch die Chance, das gewünschte Verhalten mit seinem inneren und äußeren Komponenten zu übernehmen (Kretschmann & Elspaß, 1992, S. 10)
Also findet eine gleichzeitige Förderung von Lernhandeln, Verhaltensmodifikation und Schriftsprach-, Lese- bzw. Rechenkompetenz statt.
7 Konklusion und Ausblick
Aus den einleitend dargestellten Theorien zum Begriff der Verhaltensauffälligkeit ist die Scheu vieler pädagogisch tätiger Menschen zu erklären, das Verhalten eines Kindes als auffälliges Verhalten zu benennen. Denn sie fürchten sich vor diesem Zuschreibungsprozeß, da er eine negative Stigmatisierung bedeuten kann, und verfallen stattdessen in Ignoranz der Problemlage gegenüber oder üben Selbstkritik. Beide Sichtweisen führen zur Unterlassung einer sinnhaften Intervention.
Es ist aber zwingend, jedes Verhalten intensiv zu beobachten, im Falle der Abweichung dieselbe namhaft zu machen (soll nicht heißen, das Kind auf sein abweichendes Verhalten zu reduzieren) und das Bedingungsgefüge (System), in dem das Verhalten auftritt, und das jene Verhalten zu analysieren. Auf der Basis solcher Ergebnisse läßt sich dann entscheiden, inwieweit man den Rahmen oder das Verhalten zu verändern suchen sollte.
Ich komme zu dem Schluß, daß es nicht unbedingt im Sinne der Erziehung zum selbständigen Denken liegt, verhaltensmodifikatorisch nur mit den Erkenntnissen der Lerntheorie, also kurz dem Belohnung-Strafe-System, zu operieren, da hier wie oben erwähnt die Gefahr der unreflektierten Manipulation besteht.
Insbesondere bei Verhaltensabweichungen, die auf einem Erfahrungsdefizit des Kindes und/oder einem Minderwertigkeitsgefühl beruhen, ist hiermit kein Erfolg dahingehend zu erzielen, daß das Kind seine Benachteiligung nicht mehr empfindet. Es ist angezeigt, das Defizit des Kindes zu kompensieren, z. B. ihm Zuneigung entgegenzubringen, die ihm anderenorts verwehrt wird.
Problematisch allerdings ist diese psychoanalytisch orientierte Vorgehensweise dahingehend, daß sie eine enorme Mehrbelastung für den/die PädagogIn bedeutet. Insbesondere zu Beginn einer derartigen Intervention ist zumeist nicht mit einer aufwandsentsprechenden Verhaltensweise, s. c. Beziehungserwiderung des Kindes zu rechnen. Ist dann aber eine intensive Beziehung zwischen dem Kind und dem/der PädagogIn gewachsen, kann man von einer optimalen Basis für eine Hilfestellung zur Selbstwerdung sprechen.
Gerade die Behinderung der Selbstwerdung durch die Reglementierung, die in einem fragwürdigen Gesellschaftssystem, in dem nur mehr Leistung zu zählen scheint, verankert ist, in Kombination mit Überforderung bei mangelhaftem Defizitausgleich und hieraus entstandenen Minderwertigkeitsempfinden verursacht Aggressionen zum Schutz des Selbst.
Diese Aggressionen richten sich wiederum gegen die Gesellschaft, deren scheinbare Sicherheit somit gefährdet ist. Deswegen machen Sanktionen keinen Sinn, auch wenn diese Meinung in auf Sicherheit zielend denkenden Gruppen vorherrscht. Es gilt, diesen Kreislauf zu durchbrechen, was m. E. nur durch kompensatorische Maßnahmen zu erreichen ist, d. h. es ist ein Wertewandel zu vollziehen.
Zudem ist das tägliche Leben in unserer Gesellschaft, in welcher sich ein Kind zurechtzufinden sucht, zunehmend aggressionsgeprägt.
Dieses tägliche Leben ist nun das Modell für Heranwachsende, die somit schon „auf natürliche Weise“ aggressives Verhalten als Konfliktlösungsmöglichkeiten übernehmen, indem sie es imitieren, um sich reibungslos und vorteilsbringend in die Gesellschaft einzuordnen.
Neben den aggressiv-getönten Verhaltensabweichungen treten infolge von Legasthenie/LRS und Dyskalkulie vermehrt Rückzugsverhalten und Lernblockaden als seelische und kognitive Behinderungen auf.
Auch hier ist eine empathische Anteilnahme notwendig, um Kontakt zum Kind aufnehmen zu können. Entspannungstechniken und Übungen der Kinesiologie können helfen, die Probleme zu überwinden.
Die Kenntnis der unzähligen Bedingungen und Beeinflussungen menschlichen Verhaltens und das Wissen um die vielfältigen Folgen lähmt pädagogische Reaktionen und läßt sie gar paradox werden.
Der Verzicht aber auf Wissen macht den Erzieher verantwortungslos. Nur aus der genauen Kenntnis der Situationen erwachsen die Ansprüche und nur die Möglichkeit von Veränderungswünschen läßt uns dem Menschen pädagogisch gerecht werden. Alltagssituation und Abstraktion müssen zusam-menkommen und Sinn erschließen lassen (Czerwenka, 1985, S. 8).
8 Literatur
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Anhang
Symptome, die auf eine LRS (Legasthenie) hinweisen
Der nachfolgende Systemkatalog liefert eine Auswahl an Auffälligkeiten, die auf eine LRS (Legasthenie) hinweisen bzw. diese begleiten.
Sollten bei einem Kind oder Jugendlichen mehrere dieser Punkte ein Abbild der Realität darstellen, ist eine Analyse der Rechtschreibleistung angebracht und eine eventuell notwendige Förderung einzuleiten.
(A) Wahrnehmungsbereich
(a) auditive Schwächen
– Schwierigkeiten bei der Lautunterscheidung (Beispiel: b und p)
– Schwierigkeiten bei der Lautanalyse
– Schwierigkeiten bei der Analyse der Wortrhythmik
(b) visuelle Schwächen
– Rechts-/Links-Schwäche
– Probleme bei der Orientierung auf dem Papier
– Raum-Lage-Koordinations-Defizit
– mangelnde Seitigkeitsverankerung
– Oben-Unten-Differenzierungsschwäche
( c ) sonstiges
– Speicherschwäche für Wortbilder
– eingeschränkte Merkfähigkeit
– reduzierte Reaktionsfähigkeit
– eingeschränkte kognitive Wahrnehmung
(B) Lese-Rechtschreib-Lernprozess
(a) im Lesen
– mangelnde Fähigkeiten in der Lautanalyse
– mangelnde Fähigkeiten in der Symbol-Laut-Zuordnung
– Lautfolgenvertauschungen
– Syllabierungsschwäche
– Koartikulationsschwierigkeit
– verlangsamtes Lesen
– disrhythmisches Lesen
– kein sinnerfassendes Lesen
(b) im Rechtschreiben
– Fehlerhäufung
– Fehler beim Abschreiben
– Verwechslung (ähnlicher) Buchstaben
– Buchstabenfolgenvertauschungen
– Buchstaben(-folgen)-Auslassungen
– Einfügung überflüssiger Buchstaben(-folgen)
– erhöhte Schwierigkeiten im Regelbereich (Häufungsbeispiele):
* Groß- und Kleinschreibung
* Dehnung/Doppelung
* Auslautverhärtungen (b-p,g-k,d-t)
* Differenzierungsschwäche langer und kurzer Vokale
( C.) Sprachgebrauch
– Dyslalie (Lautbildungsschwäche)
– Dysphasie (Wortbildungsschwäche)
– Dysgrammatismus (Satzbildungsschwäche)
– Wortfindungsschwäche
– Artikulationsschwäche
– disrhythmisches Sprechen
– Verständnisschwierigkeiten
– syntaktische Armut
(D) motorische Defizite und Schriftbild
– Verkrampfungen
– fehlerhafte Stiftführung
– verlangsamtes Schreiben
– Schrift-Form-Abweichungen
(E) Verhaltensauffälligkeiten
– Lese-Schreib-Unlust bzw. Verweigerung
– psychosomatische Beschwerden (zum Beispiel: Übelkeit, Bettnässen, Selbstaggressionen wie Nägelkauen, etc.)
– ängstliches oder aggressiv gefärbtes Rückzugsverhalten
– Leistungsängste
– depresssive Verstimmungen
– Schlafbeeinträchtigungen
– Schulunlust, -angst
– Hyperkinetisches Syndrom
– Lernblockaden
– Clownerie
– Kontaktschwierigkeiten
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