Lese-/Rechtschreibstörung (Legasthenie/LRS), Junge (12 Jahre)
DOKUMENTATION für den öffentlichen Träger
Therapieplan (Erstbewilligung)
Sehr geehrte Frau M,
X wurde mir vor einem Vierteljahr mit der Diagnose einer Teilleistungsschwäche im Lesen und Rechtschreiben in einem unverbindlichen und kostenfreien Beratungsgespräch vorgestellt.
Mittlerweile hat X an 10 TE integrativer Lerntherapie bei mir teilgenommen.
Xs Mutter Frau Y begleitet ihn oft zur Sitzung, so dass wir uns regelmäßig über den Verlauf austauschen können. X wird von seinen Eltern pflichtbewusst und feinfühlend unterstützt und fühlt sich in der Familie geborgen.
Trotzdem kommt es intermittierend zu innerfamiliären Spannungen, weil X sich jeden Tag lange dagegen sträubt, nachmittags seine Hausaufgaben zu beginnen.
Frau Y und ihr Sohn X haben in dieser Sache um Hilfe gebeten. Wir haben zusammen im sokratischen Gespräch herausgefunden, dass X sich gegenüber seinen Hausaufgaben als ohnmächtig erlebt. Er hat den Eindruck, dass er keine Zeit für sich hat.
Da X sich solange weigert, mit den Hausaufgaben zu beginnen, aber diese Zeit auch nicht genießen kann, sondern bereits als Fremdbestimmung empfindet, ist Xs Tagesfreizeit in der Tat aus seiner Sicht sehr kurz.
Um diesen Teufelskreis aufzubrechen, habe ich X zuerst vor allem Verständnis für seine Abneigung gegen Fremdbestimmung entgegengebracht. Diese ist für hochintelligente Menschen besonders typisch.
Wir haben auf dieser Basis des achtsamen Umgangs mit Xs Bedürfnissen deutlich zu fassen bekommen, dass X nicht wirklich viele Hausaufgaben zu erledigen hat, auch wenn man das notwendige Üben der Vokabeln und für Klassenarbeit einbezieht.
X folgte meinen Argumenten aufmerksam und gestaltete das Gespräch aktiv mit.
Am wichtigsten war, X zu verdeutlichen, dass der Nachmittag vor allem durch seine Vermeidungsstrategien blockiert wird.
Wir haben mit Frau Y vereinbart, dass X sich nun nach einer kurzen Pause direkt nach der Schule an seine Hausaufgaben setzt. Dieses soll aber vorerst unter Einsatz eines Weckers erfolgen. X soll sich vorerst nur stückweise in Abschnitten à zehn Minuten mit seinen Hausaufgaben beschäftigen, bevor er nach dem Klingeln des Weckers eine Pause machen darf. Auf diese Weise wollen wir Xs Psyche Raum geben, sich nicht mehr so ohnmächtig von den Pflichten erdrückt zu erleben.
Auch wenn man landläufig der Meinung ist, dass es für Schüler/innen normal ist, Hausaufgaben zu machen, und keiner besonderen Belohnung bedarf, stellt sich die Situation für teilleistungsschwache Schüler/innen wie X durchaus anders dar.
Denn die Teilleistungsschwäche bedeutet für die Kinder/Jugendlichen, sich bereits vormittags in der Schule weitaus stärker verausgaben zu müssen als viele andere.
Dadurch sind Kinder wie X selbstredend nachmittags erschöpft.
Um X nun zu helfen, seine Aversion gegen die Hausaufgaben und das Üben zu überwinden, haben Frau Y und X ein Belohnungssystem erarbeitet.
X wird in einem zeitbasierten Belohnungssystem Punkte sammeln, die er vorerst für Besuche mit seinen Eltern zur kindgerechten Happy Our in einer Cocktailbar einlösen wird. X geht gerne mit seinen Eltern zur Happy Our und genießt – natürlich alkoholfreie – Cocktails. Es ist schön, dass die Familie etwas Angenehmes zusammen unternimmt.
In der Lerntherapie und Erziehung Raum für angemessene originelle Ideen zu lassen, ist hier in seiner Wichtigkeit bestätigt.
Wir hoffen nun, dass X sich so auch bald selbst motivieren kann, Themen zu üben, die ihn nicht so sehr interessieren. Dieses ist für hochintelligente Menschen oft sehr schwierig, da sie vorzugsweise ihren eigenen geistigen Interessen intensiv nachgehen.
Den Einstieg in die systematische Übungsbehandlung haben wir über die Groß- und Kleinschreibung genommen. Es war speziell die Substantivierung der Verben und Adjektive Thema im Deutschunterricht.
Da für Legastheniker/innen mannigfache Redundanzen unerlässlich sind, ist es sinnvoll, die aktuellen schulischen Rechtschreibthemen simultan auch in der Lerntherapie zu bearbeiten, sofern der individuelle Leistungsstand des/der Schüler/in dieses zulässt.
Dieses war für X statthaft, weil er in den Grundregeln der deutschen Groß- und Kleinschreibung bereits sicher ist, so dass er der Abgrenzung dieser Sonderregeln für Verben und Adjektive mühelos folgen konnte.
Sehr hilfreich ist bei dieser Thematik Xs logisch-analytische Denkstruktur.
X hat in der Klassenarbeit zu diesem Thema ein „Gut“ erreicht. Leider nimmt X selbst dieses noch nicht als den großen Erfolg wahr, den diese Note darstellt. Vielmehr hat er selbst die Bewertung vor sich und anderen damit herabgewürdigt, dass es ja nur ein Lückendiktat gewesen sei.
Auf diese Problematik des erhöhten Anspruchs an sich selbst gehe ich nachstehend näher ein, wenn ich mich mit den emotionalen Aspekten des Lernens beschäftige, auf die ich oben bereits Bezug genommen habe.
Einen normierten Rechtschreibtest habe ich vorerst nicht durchgeführt, weil ich X dieses Stressmoment ersparen konnte, da Frau Y mir viele Texte zur informellen Analyse der Rechtschreibleistung überlassen hat.
Die Patienten-Compliance ist ausgesprochen gut.
Zur Ergebnisdiskussion der Lese-/Rechtschreibleistung inkl. der Beschreibung basaler Fähigkeiten wie folgt:
Die Teilergebnisse ergaben/ergeben ein kognitives Profil, das durch Schwächen in einigen für das Erlernen des Lesens und Schreibens relevanten kognitiven Grundfunktionen geprägt war/ist.
Basierend auf den förderdiagnostisch als auch aus eigenen Texten erhobenen Ergebnissen des Leistungsstandes im Leistungsfeld des Lesens und Rechtschreibens erstelle ich nachstehend ein differenziertes Leistungsprofil.
- Basale Funktionen als Notwendigkeit des Lesens und Rechtschreibens
Visuelle Differenzierung
- Raum-Lage-Orientierung
Keine Beeinträchtigung ersichtlich.
- Visuelle Differenzierung ähnlicher Grapheme
Keine Beeinträchtigung ersichtlich.
Auditive Wahrnehmung und Verarbeitung
Keine Beeinträchtigung mehr ersichtlich. X hatte eine Therapie seiner vormaligen AVWS absolviert. Ich habe wegen einer unklaren Aussage bezüglich deren Erfolg seitens der behandelnden Phoniaterin eine dedizierte Überprüfung mit elektronisch gesteuertem Eqipment vorgenommen.
Regelgeleitete Rechtschreibung
- Speicherschwäche für Wortbilder
- b/p, d/t, g/k im Auslaut: unzureichende Kenntnis der Ableitungsregel bzw. reduzierte Umsetzungsfähigkeit
- lange/kurze Vokale: unzureichende Differenzierung
- Dehnung/Doppelung
- ck/k – tz/z
- e/ä
- v/f/pf
- Groß-/Kleinschreibung (vor allem Tageszeiten und Sonderregelungen)
Im Fazit ist das Nahziel ein kleinschrittiges Symptomtraining im Bereich der basalen Fertigkeiten mit motivierender Rückmeldung.
Begründet ist das vorstehend beschriebene Vorgehen im Stufenmodell der deutschen Rechtschreibung.
Zuerst müssen visuelle und auditive Beeinträchtigungen austherapiert werden.
Diesem folgt ein Automatisierungstraining, das in Xs Fall großenteils begleitend durchgeführt werden kann, weil X weite Teile des Lese-/Rechtschreiblerncurriculum bereits verinnerlicht hat und seine spezifischen Einschränkungen der visuellen und auditiven Wahrnehmung dieses erlauben.
Da X die lauttreue Rechtschreibung gut beherrscht, arbeiten wir neben dem psycholinguistischen Training direkt an den Rechtschreibregeln.
Bereits absolviert hat X bislang das Training der Substantivierung der Verben und Adjektive, die Differenzierung lang und kurz gesprochener Vokale, die Konsonantendoppelung und die Unterscheidung von tz/z und ck/k.
X fertigt auch seine häuslichen Übungen zur Festigung der Therapiethemen sorgfältig an.
Die Merkwörter (Ausnahmeschreibweisen) werden so trainiert, dass sie vom Kurzzeitgedächtnis über das mittelfristige Gedächtnis ins Langzeitgedächtnis gelangen. Hierzu sind mannigfaltige Redundanzen notwendig.
Einzelne Übungen des NLP lassen sich in die Lernwortübungen einbringen.
Das psycholinguistische Lese-/Rechtschreibtraining trainiert die basalen Fertigkeiten, die auch zum erfolgreichen Lesen notwendig sind. Besonderes Gewicht liegt hierbei auf der Erweiterung des Arbeitsgedächtnisses (Buffer), damit X sich z. B. beim Abschreiben von der Tafel längere Segmente zu merken lernt.
Hieran schließt die Förderung einiger sprachverarbeitender Hirnfunktionen an.
Ziel ist es im Endeffekt, Xs orthographisches Output-Lexikon zu erweitern. Hierzu müssen Defizite in der Phonem-Graphem-Konvertierung behoben werden.
Der Ausgangspunkt für diese legasthenieimmanente Schwierigkeit ist in Xs Fall vermutlich noch weiter vorne in den Basisfunktionen der Sprachverarbeitung zu suchen, z. B. im phonologischen Input-Gedächtnis.
Somit ist sowohl das Lesen als auch das Rechtschreiben weder auf der segmentalen Route noch auf der hocheffizienten lexikalischen Route als gesichert anzusehen.
X muss isoliert den phonologischen und orthographischen Buffer trainieren.
Hernach wurden beide Funktionen kombiniert, was insofern von Wichtigkeit ist, als dass geübte Leser/innen und Schreiber/innen nicht über die segmentale Route dekodieren und/oder explizit Rechtschreibregeln anwenden, sondern die Wörter als Ganzheiten im phonologischen und orthographischen Output-Gedächtnis gespeichert haben und dort abrufen können. Das Zusammenspiel ist zur Phonem-Graphem-Konvertierung notwendig.
Diese Fähigkeit ist bei X zweifach eingeschränkt. Nach eigener Angabe gelingt es ihm noch schlecht, sich beim reinen Abschreiben mehrere Buchstaben in Folge zu merken, sodass er oft zur Vorlage zurückschauen muss, obwohl X das isolierte Segmentieren in Silben sehr gut gelingt. Hier zeigt sich der defizitäre phonologische und orthographische Buffer (temporäres Arbeitsgedächtnis). Es ist nicht klar, ob das Problem im Input- oder Output-Buffer gründet, was auch generell wissenschaftlich noch nicht erforscht ist.
X ist beständig hoch motiviert, niemals monoton in Silben zu lesen, obwohl ihm der Lesefluss dann besser gelingt, ohne zu stocken. X legt selbst großen Wert auf eine wirkungsvolle Betonung. Es muss sukzessive die Fähigkeit verbessert werden, einen längeren Satz als Ganzes wahrzunehmen und simultan zu fragmentieren.
Die Komplexität des lauten Lesens wird X besser gelingen und vor allem weniger anstrengen, wenn die Teilfunktionen und deren Kombination trainiert sind.
Wegen seiner phonologischen Dyslexie ist dieses Lesen auf der lexikalischen Route für X noch schwierig, wird sich aber durch das Training der phonologischen Bewusstheit entwickeln. Die Einschränkung wird besonders beim Schreiben von unbekannten lauttreuen Wörtern deutlich.
Weil das lexikalische Gedächtnis (auswendig beherrschte Wörter) eingeschränkt ist, ist die Förderung der segmentalen Route sehr wichtig, damit X in die Lage versetzt wird, unbekannte Wörter leichter zu identifizieren.
Zudem beeinträchtigen die Probleme beim Aufbau der segmentalen Route auch die lexikalische Route (→ Wechselwirkung).
Bei X kommt es vor, dass die phonologische Dyslexie zu Ganzwort-Substitutionen führt, indem niedrig- durch hochfrequent auftretende Wörter ersetzt werden (ein Prozess, der oft fälschlich für reines Raten gehalten wird).
Aber Verwechslungen treten bisweilen auf, wenn ähnliche Wörter zu lesen sind, beispielsweise Biene → Beine, Dose → Hose.
Semantische Paralexien und Paragraphien sind hingegen bei X nicht zu beobachten.
Der Aufbau visuell orthographischer Repräsentationen im orthographischen Lexikon wird trainiert (→ (nicht nur) Lernwörter).
Auch sind die aktivierbaren Verbindungen vom orthographischen Lexikon zum semantischen System und zum phonologischen Output-Lexikon zu stabilisieren.
Die segmentale Route wird sukzessive durch einen Zuwachs an orthographischem Regelwissen gestärkt werden. Diesem Prozess folgt ein Training, das entsprechende Wortwissen schnell und zuverlässig abzurufen, wie es insbesondere von LRS/Legasthenie betroffene Menschen beim Korrekturlesen eigener Texte brauchen.
Die visuell-graphematische Analyse des geschriebenen Wortes gelingt X zwar recht gut, aber die Verbindung diesen Prozesses mit dem Abrufen im orthographischen Input-Lexikon ist beeinträchtigt. Somit kommt es wegen des noch beeinträchtigten phonologischen Buffers und Output-Lexikons regelmäßig zu kleinen Störungen in der Graphem-Phonem-Konvertierung.
Doch die Auswirkungen solcher Lesefehler auf den Sinn des Gelesenen sind lediglich mittelgradig, da X die vorstehend beschriebenen Probleme auf Grund seiner hohen kognitiven Fähigkeiten und geistigen Flexibilität gut kompensieren kann, was aber gleichwohl sehr anstrengend für ihn ist.
Das Schreiben nach Diktat ist insofern für X sehr anstrengend, als hier Informationen aus dem semantischen System sowie das phonologische u n d orthographische Input-Gedächtnis als Input dienen. Hernach ist noch die Phonem-Graphem-Konvertierung zu bewältigen, die wegen der beschädigten Buffer und ihrer Verbindungen erschwert ist.
Deswegen ist es unerlässlich, die o. g. Grundfunktionen zu trainieren, um die Schnelligkeit der schriftsprachlichen Informationsverarbeitung zu steigern und diese stärker zu automatisieren.
Hier münden meine ursachenaufdeckenden Betrachtungen der Sprachverarbeitung in meine Überlegungen zur psycho-emotionalen Ausgestaltung des therapeutischen Settings.
Um ein effektives Lese-/Rechtschreibtraining zu gewährleisten, ist Xs innerspychisches Erlebens zu positivieren, damit X dem bedingt durch seine Legasthenie erhöhten Übungsbedarf Stand halten kann.
Xs Leistungsängste durch die negativen Erfahrungen blockieren ihn nachhaltig.
Da X sehr sensibel und dabei perfektionistisch ist, belasten ihn abwertende Reaktionen seiner Mitschüler/innen immens.
Diesbezüglich werde ich X im lerntherapeutischen Gespräch stärken. X soll erfassen, dass Fehler normal sind und ein teil jeden Lernprozesses.
Insbesondere bei Leistungsanforderungen, die er stets durch seinen hohen individuellen Anspruch an sich selbst sehr genau nimmt und geflissentlich erfüllen möchte, gerät X unter Stress, so dass sich Fehler häufen.
Es wurde augenfällig, dass X seine Fehler sehr unangenehm sind und er sich ausgesprochen anstrengt, um sie zu vermeiden. Dadurch steigt der Kortisolspiegel, was die Fehlerdichte durch das sprichwörtliche „Brett vor dem Kopf“ zusätzlich ansteigen lässt. Kortisol ist maßgeblich an dem Entstehen von Black Outs beteiligt. Effektives Lernen ist deswegen ausschließlich möglich, wenn das psychische System entspannt ist, weil ansonsten der Fokus angstbedingt auf Flucht gerichtet ist, was jedwede Konzentration auf kognitive Inhalte erschwert.
Da die behandelnde Phoniaterin Xs Hörverarbeitung als „gebessert“ tituliert hat, aber hierbei nicht ins Detail gegangen ist, habe hat sich X in Absprache mit Frau Y einem Hörwahrnehmungs und -verarbeitungstest bei mir unterzogen. Es ist erfreulich, dass Xs Hörwahrnehmung und -verarbeitung nicht mehr beeinträchtigt ist (s. o.).
Die ersten TE hatten wir neben der Bearbeitung des Substantivierens der Verben und Adjektive für den Einstieg in das psycholinguistische Lese-/Rechtschreibtraining genutzt.
X arbeitet immer bereitwillig und sehr konzentriert mit.
Das Screening-Verfahren zum binokularen Sehen ist noch durchzuführen.
Ich biete meinen Patient/innen die beiden letztgenannten Testverfahren kostenfrei an, weil sie selten von den zuständigen Fachärzten/innen für Augenheilkunde durchgeführt werden.
Xs Erfolge, die er bereits stetig erlebt, werden von außen durch deutliches Lob und das Lenken seiner Aufmerksamkeit auf seine Fähigkeiten überhöht, so dass sie ihm selbst sukzessive bewusst werden können (Einfluss der Fremdbewertung auf die Selbstbewertung).
Visuelle Wahrnehmungsübungen stehen zu Beginn jeder TE im Vordergrund.
Durch die Methoden der Psychosynthese1 soll X seine Ängste reduzieren können.
Die Psychosynthese zielt darauf hin, die zerstreuten psychischen Kräfte zu vereinen. Auf dieser Basis wird es möglich, X zu verdeutlichen, dass die Legasthenie nur ein ganz kleiner Teil seines Selbst ist, seinen Blick dafür zu öffnen, was er alles gut kann.
Zudem lernt X, dass Hochsensitivität und Hochbegabung ein hohes Gut darstellt.
Xs Autonomie muss gefördert werden. Diesem Ziel geht der Prozess voraus, dass X die Realität akzeptieren lernt und sie nicht mehr als bedrohlich erlebt – nämlich, dass die Legasthenie mit Sicherheit eine Einschränkung im Leben bedeutet, aber nicht sein Selbstwertgefühl leiten muss.
Konsequent wird X ein Vorbild mit Anleitungen gegeben, wie mit der Angst vor Fehlern produktiv umgegangen werden kann. Hierzu wird Kongruenz in der Metakommunikation geschult. Kongruent sind Kinder, die sich mit ihren Gefühlen im Einklang befinden.
Für X heißt dieses zu erfahren, dass seine Ängste durchaus verständlich und erlaubt sind, es aber Wege gibt, mit diesen Ängsten umzugehen, sie zu verringern und bestenfalls zu überwinden.
So wird vermieden, X hinsichtlich seiner emotionalen Regungen zu bewerten, sondern in einer Art mit ihm diese Emotionen reflektiert, die ihn beruhigt, um die Selbstregulation zu ermöglichen.
Durch positive Verstärkungen werden seine Fähigkeiten hervorgehoben. Aufgrund der Basis, sich in seiner Individualität angenommen zu fühlen, konnte X bereits Vertrauen aufbauen.
X braucht allerdings diesen schützenden Rahmen. Derzeitig ist der Prozess der Autonomiebildung noch nicht hinreichend vollzogen.
X soll lernen, dass „sich anstrengen“ zu nichts Anderem führt, als angestrengt zu sein, und dass es ineffektiv ist sich anzustrengen, ohne dabei den Weg vorgezeichnet zu bekommen, wie man zum Erfolg kommen kann.
So kann X seinen inneren Druck abbauen und erlebt seine Menschenwürde nicht durch unachtsame Reaktionen auf seine Teilleistungsschwäche als beschädigt.
Die Psychodynamik der beim Lernvorgang ablaufenden psychischen Prozesse soll wieder in annähernd geordnete Bahnen geleitet werden.
Auf der Basis von Freuds Dreiinstanzenmodells können wir formulieren, dass Xs Lernhemmung dadurch überwunden werden konnte, dass keine Unordnung mehr zwischen seinem Ich, Es und Über-Ich herrscht.
Nur wenn diese drei Instanzen in ausgeglichenem Spannungsverhältnis zueinanderstehen, ist dem Ich das ungestörte Lernen möglich.
Dieses Lernverhalten nennen wir „wissensdurstig“.
X selbst ist sehr erleichtert, wenn durch die fortwährende Rückmeldung deutlich wird, welche konkreten Lerninhalte nur noch zu trainieren sind, weil er merkt, was er alles bereits beherrscht.
X wird angeleitet, modifizierte Verhaltensmuster zu erwerben, was eine nachhaltige Veränderung seines emotionalen Gefüges zur Folge haben wird (Umbau der verhaltenssteuernden Hirnstrukturen2).
Erst durch dieses nachhaltige Verändern der negativen misserfolgserwartenden Lernstruktur hin zu einer positiven Erwartungshaltung werden Erfolge möglich, denn nur so bleiben Engagement und Anstrengungsbereitschaft erhalten.
Zudem wird X angeleitet, durch einen Perspektivenwechsel erfolgreich eine andere Sichtweise auf sein Problem zu bekommen. Hierzu wird die aufdeckende psychotherapeutische Intervention vertieft werden.
Noch steht für X derzeitig immer tendenziell seine Schwäche im Fokus seines Bewusstseins. Sein Augenmerk konnte noch nicht hinreichend auf seine Stärken gelenkt werden.
X ist zu tief in seiner Identität beschädigt, als dass sich bereits ein positiv modifiziertes Selbstbild hätte aufbauen lassen.
Familie Y erhält eine Zweitschrift diesen Berichts.
Für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Ich hoffe, Sie mit diesen Angaben unterstützt zu haben, und verbleibe
mit freundlichem Gruß
Dipl.-Päd. Friederike Ch. Andrés-Moysich
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Abschlussbericht (Erstbewilligung)
Sehr geehrte Frau M,
heute möchte ich Ihnen wieder von Xs Legasthenie-Therapie berichten.
Hierbei beziehe ich mich auf meinen ersten Zwischenbericht inkl. der individuellen Therapieplanung.
X hat heute an seiner 37. TE teilgenommen.
Die Patienten-Compliance war durchgängig ausgesprochen gut – sowohl in Bezug auf X selbst als auch seine Eltern.
Frau und/oder Herr Y nehmen sich regelmäßig Zeit für ein Gespräch zu Beginn der TE und/oder nach Vereinbarung telefonisch.
X fertigt seine häuslichen Übungen zur Festigung der Therapiethemen immer sorgfältig an.
Xs Anwesenheit und Mitarbeit in der Therapie ist weiterhin kontinuierlich und intrinsisch motiviert. Es ist für X selbst von großer Bedeutung, weitere Fortschritte in der Verbesserung seiner Rechtschreibfähigkeiten zu machen, wobei es für ihn eine hohe Anstrengung bedeutet, seine durch frühere Misserfolge erworbene Blockade immer wieder zu überwinden.
Xs aus den negativen Vorerfahrungen des Lernversagens in der Rechtschreibung resultierende Blockade erklärt sich hirnbiologisch z. T wie nachfolgend beschrieben.
„Wo Neugier, Faszination und Erwartung (Hervorhebung durch die Verfasserin) fehlen, wird die so wichtige Lernbereitschaft für einen zunächst fremden Stoff nicht geweckt. Vielmehr löst die Konfrontation mit dem Ungewohnten dann über das Zwischenhirn und den Sympathikusnerv eine direkte Stimulation von Catecholaminen- auch in bestimmten Gehirnregionen – aus […], was […] bei stärkeren Reaktionen […] das Abwehrverhalten gegen den Lernstoff zementiert. (Vester, F. (2001): „Denken, Lernen, Vergessen“, DTV)
Trotzdem erlebe ich X im therapeutischen Setting als sehr humorvollen Menschen. Er verfügt über einen für sein Alter außergewöhnlich gut ausgeprägten Sinn für Ironie – passiv und aktiv.
Verdachtsmomente auf Schwierigkeiten beim binokularen Sehen bestehen nicht.
Überforderungssituationen beim häuslichen Üben sind seltener geworden, aber der durch die Legasthenie erhöhte Übungsbedarf – vor allem in den Sprachenfächern – stellt für die ganze Familie eine große Herausforderung dar.
Besonders das durch die Legasthenie eingeschränkte Arbeitsgedächtnis muss noch weiterhin geschult werden, damit auch das Erlernen von Vokabeln und Gedichten/Balladen leichter fällt.
Xs Fähigkeit sinnentnehmend zu lesen, ist nicht beeinträchtigt.
Xs ehemalige Deutschlehrerin Frau K ließ mich wissen, dass sich Xs Mitarbeit im Unterricht deutlich gesteigert hat.
Aus ihrer Sicht aber ist Xs Rechtschreibung noch immer bedenklich.
Frau K merkte an, dass X ein und dasselbe Wort in Texten bisweilen in mehreren verschiedenen Schreibweisen zu Papier bringt. Dieses ist ein typisches Symptom der Legasthenie, dem wir durch das psycholinguistische Lese-/Rechtschreibtraining weiterhin entgegenwirken müssen.
Die neuronalen Verbindungen, in denen die falschen Schreibweisen gespeichert sind, werden sukzessive verkümmern, wenn durch intensives Wortbildtraining beständig nur diejenige bedient wird, in der die korrekte Schreibweise gespeichert ist. Infolgedessen werden seltener Informationen über Synapsen weitergegeben, die nicht aktiviert werden sollten.
In Anlehnung an den schulischen Unterrichtsstoff haben wir uns der Groß- und Kleinschreibung gewidmet (s. Therapieplan). Es war speziell die Substantivierung der Verben und Adjektive Thema im Deutschunterricht. Da für Legastheniker mannigfache Redundanzen unumgänglich sind, ist es sinnvoll, die schulisch aktuellen Rechtschreibthemen auch parallel in der Lerntherapie zu bearbeiten, sofern der Leistungsstand des/der Schüler/in dieses rechtfertigt.
Den Kontakt zu Xs jetzigem Deutschlehrer (Lehrerwechsel zu Schuljahresbeginn) stelle ich zeitnah her. Frau Y steht bereits in Kontakt mit ihm und hat auch meine Kontaktdaten weitergereicht, damit der Lehrer sich seinerseits an mich wenden kann.
X fallen besonders Lernwörter schwer, die man nicht regelgeleitet erklären kann, da eine Desorganisation in der Wahrnehmung der Buchstabenreihenfolge vorliegt, die das eingeschränkte Wortbildgedächtnis flankiert.
Es gelingt X aber mit Hilfe mannigfaltiger Redundanzen, spezielle Lernwörter zu behalten, was aber einen enormen zeitlichen Aufwand darstellt und auch eine enorme Langmut erfordert.
Rechtschreibregeln anzuwenden, gelingt X zunehmend besser, wenn man entsprechend strukturiertes Wortmaterial anbietet.
Im (eigenen) Fließtext aber findet X nur wenige (seiner) Fehler, auch wenn man die richtige Schreibweise mit Hilfe einer bereits erarbeiteten Regel ableiten könnte.
Dieses Problem möchten wir dadurch zu verringern versuchen, dass X nur jede zweite Zeile auf liniertem Papier beschreibt, da er dann seine eigene Handschrift besser lesen kann.
Ein effektives Rechtschreibtraining hat bereits stattgefunden, aber selbstredend konnte/n in Anbetracht der starken Ausprägung von Xs Legasthenie weder alle notwendigen Rechtschreibregelgebiete thematisiert noch denn Xs Lernwortspeicher hinreichend ergänzt werden.
Nach einem niedrigschwelligen Einstieg in das systematische Symp-tomtraining mit vorübergehendem Fokus auf der Pilotsprache (lauttreu geschriebene Worte) konnten wir sehr bald beginnen, uns komplexen Rechtschreibregelgebieten zu widmen.
Hierbei ist positiv zu erwähnen, dass X keinerlei Verständnisschwierigkeiten hat.
Schwierig ist aber die Umsetzung des erworbenen Regelwissens im freien Schreiben und Diktat.
Im Bereich der visuellen Wahrnehmung hat X zwar bereits Fortschritte erzielt, aber eine weitere Differenzierung seiner Wahrnehmung ist unbedingt erforderlich, um den schulischen Anforderungen standzuhalten.
Symptomspezifisch trainiert hat X im Rahmen der Therapie und hierbei nach Möglichkeit in enger Kooperation mit seiner Deutschlehrerin Frau K auch den aktuellen rechtschreibungsbezogenen Unterrichtsstoff.
In Kooperation mit Familie Y haben wir eine individuelle Lernwortkartei angelegt.
Trainiert hat X bislang:
- Training zur Automatisierung der basalen Wahrnehmungsverarbeitungsfähigkeiten
- Psycholinguistisches Lese-/Rechtschreibtraining
- Wortbildgedächtnis (u. a. eigene Fehlerwörter)
- Umsetzung der Verlängerungsregel bei auslautverhärtenden Verschlusslauten: g/k, d/t und b/p
- Differenzierung langer und kurzer Vokale mit Bezug auf ck/k und tz/z
- Konsonanten-Doppelung
- gesummtes vs. gezischtes [s]
- Differenzierung von ss/ß
- f/pf
- Dehngs-h
- nominalisierte Verben/Adjektive
- das vs. dass
- Vorsilben ver-, vor-, voll-
Diese Themen müssen noch stetig wiederholt werden, damit sie von X internalisiert werden können, um seine Schwierigkeiten zu mindern, sie beim freien Schreiben und in Diktaten umzusetzen.
Grundlegend eingeführt werden müssen folgende Rechtschreibthemen:
- e/ä – eu/äu
- ie/ih/ieh
- Doppelvokale
- Vorsilben end-/ent-
- Fremdwörter auf -ik und -ieren
- Fremdwörter allgemein
Sowohl das visuelle Automatisierungstraining als auch psycholinguistische Lese-/Rechtschreibtraining muss unbedingt fortgesetzt werden, wenngleich das Lesen schon flüssiger geworden ist.
Durch das förderdiagnostische Vorgehen und die gute informative Kooperation mit Xs Eltern und hoffentlich auch prospektiv dem neuen Deutschlehrer kann sich diese Zusammenstellung fortwährend verändern.
X erlebt zunehmend Selbstwirksamkeit – sowohl bei der Überwindung seiner Lern- und Leistungsblockaden als auch in Form sukzessiver Verbesserung seiner Rechtschreibung.
Aber es braucht wie oben erwähnt eine Fortsetzung der Therapie zur Steigerung dieses günstigen Prozesses und hernach eine Konsolidierung desselben insbesondere, um sich dem bei Legasthenie lebenslang erhöhten Übungsbedarf der Rechtschreibung stellen zu können, ohne dadurch in Hoffnungslosigkeit zu versinken.
Das ausgeprägte Potential Xs hoher Intelligenz darf keinesfalls durch die legasthene Beeinträchtigung in seiner Nutzbarkeit beeinträchtigt werden.
Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass X noch unter sehr großer Anstrengung steht, seine legasthene Beeinträchtigung zu kompensieren.
So braucht X Entlastung – sowohl durch fortwährendes Rechtschreibtraining als auch in Form emotionaler Unterstützung. Das psychodynamische Setting meiner Lerntherapien, wie ich es im Vorbericht ausführlich beschrieben habe, wird beibehalten.
X fühlt sich mit seiner Teilleistungsschwäche in seiner Familie sehr gut aufgehoben und weiß, die häusliche Unterstützung zu schätzen.
Doch war X bereits zu tief in seiner Identität beschädigt, als dass sich bereits ein hinreichend positiv modifiziertes Selbstbild hätte aufbauen lassen.
Im Fazit bitte ich Sie, Frau M, in Anbetracht meiner obigen Ausführungen, X ein weiteres TE-Kontingent zu bewilligen, sofern dieses im Rahmen Ihrer Vorgaben möglich ist.
Familie Y erhält eine Zweitschrift diesen Berichts.
Für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Ich hoffe, Sie mit diesen Angaben unterstützt zu haben, und verbleibe
mit freundlichem Gruß
Dipl.-Päd. Friederike Ch. Andrés-Moysich
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Therapieplan (Zweitbewilligung)
Sehr geehrte Frau M,
zuerst möchte ich mich für Ihre umfassende Verschriftung des HPG bedanken, die wie immer sehr hilfreich ist.
Nun ist es an der Zeit darzulegen, wie Xs Legasthenie-Therapie in ihrer Fortsetzung ausgestaltet werden soll.
Hierbei beziehe ich mich auf meine Vorberichte.
Vom aktuellen Kontingent haben wir jetzt 6 TE verbraucht.
Die Patienten-Compliance ist weiterhin sehr gut – sowohl in Bezug auf X selbst als auch seine Eltern.
Mit Familie Y stehe ich weiterhin regelmäßig in Kontakt, wofür wir verschiedene Kommunikationswege nutzen (s. Vorbericht).
Im Fokus steht immer die Hilfe bei der Überwindung der verbliebenen Blockaden. Xs Frustrationstoleranz ist aber schon merklich gewachsen.
Trotzdem sehe ich hier einen entscheidenden Förderschwerpunkt, um Regressionen vorzubeugen und auch Xs „nervliches Portfolio“ stetig zu erweitern.
So sollen auch die verbliebenen Überforderungssituationen beim häuslichen Üben noch weiter abgebaut werden.
Xs durch die Legasthenie eingeschränktes Arbeitsgedächtnis wird weiterhin geschult werden, damit auch das Erlernen von Vokabeln und Gedichten/Balladen leichter fällt.
Das psycholinguistische Lese-/Rechtschreibtraining ist fortzusetzen.
Die Regeln der Groß- und Kleinschreibung müssen wir teilweise wiederholen, überwiegend aber nur festigen.
Damit X die regellosen bzw. -widrigen Lernwörter leichter fallen, wird er sich neben den psycholinguistischen Übungen, die hier auch zielführend sind, intensivem Training seines Wortbildgedächtnisses (Lernwortspeichertraining) unterziehen.
Es gelingt X mit Hilfe mannigfaltiger Redundanzen, spezielle Lernwörter zu behalten, was aber einen enormen zeitlichen Aufwand darstellt und auch eine enorme Langmut erfordert.
X wird angeleitet, im (eigenen) Fließtext Fehler zu finden.
Das visuelle Wahrnehmungstraining wird hierfür fortgesetzt, und das regelgeleitete Rechtschreibtraining muss neben dem oben Genannten umfassen:
wiederholend und konsolidierend
- Umsetzung der Verlängerungsregel bei auslautverhärtenden Verschlusslauten: g/k, d/t und b/p
- Differenzierung langer und kurzer Vokale mit Bezug auf ck/k und tz/z
- Konsonanten-Doppelung
- gesummtes vs. gezischtes [s]
- Differenzierung von ss/ß als mögliche Grapheme für gezischtes [s]
- f/pf
- Dehngs-h
- nominalisierte Verben/Adjektive
- das vs. dass
- Vorsilben ver-, vor-, voll-
- Fremdwörter auf -ik und -ieren
erweiternd
- e/ä – eu/äu
- ie/ih/ieh
- Doppelvokale
- Vorsilben end-/ent-
- wider und wieder
- altersentsprechende Fremdwörter allgemein
Sowohl das fortwährende Rechtschreibtraining als auch die lerntherapeutische emotionale Unterstützung im aufdeckenden Gespräch mit der gemeinsamen Entwicklung verhaltenstherapeutischer Elemente zielen im psychodynamischen Setting auf die Stabilisierung von Xs Selbstwertgefühl.
Im lerntherapeutischen Gespräch wird auch Xs Hochbegabung thematisiert, da diese großen Einfluss auf seine Position unter den Mitschüler/innen hat (Stichwort Mobbing).
X fühlt sich weiterhin mit seiner Teilleistungsschwäche in seiner Familie sehr gut aufgehoben und weiß, die häusliche Unterstützung zu schätzen.
Familie Y erhält eine Zweitschrift diesen Berichts.
Für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Ich hoffe, Sie mit diesen Angaben unterstützt zu haben, und verbleibe
mit freundlichem Gruß
Dipl.-Päd. Friederike Ch. Andrés-Moysich
1 vgl. Ferruci, P.: Werde, was du bist.
2 vgl. hierzu hirnphysiologische Erkenntnisse über Auswirkungen psychotherapeutischer Behandlung in Gehirn & Geist, Heft 6/2003
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Abschlussbericht (Zweitbewilligung)
Sehr geehrte Frau M,
mit Dank für die gute Kooperation möchte ich heute vom Fortgang der o. g. Therapie berichten.
Hierbei beziehe ich mich auf Ihren Hilfeplan und meine Vorberichte.
Vom aktuellen Kontingent haben wir jetzt 35 TE verbraucht.
Die Patienten-Compliance ist weiterhin sehr gut – sowohl in Bezug auf Xsselbst als auch seine Eltern.
Mit Familie Y. stehe ich weiterhin regelmäßig in Kontakt, wofür wir verschiedene Kommunikationswege nutzen.
X selbst bringt sich immer mehr durch dedizierte eigene Hilfewünsche ein (s. unten).
Im Fokus steht neben der Hilfe bei der Überwindung der verbliebenen Blockaden inzwischen erfolgreich die avisierte intensive systematische Übungsbehandlung, da
Xs Frustrationstoleranz durch seine beständig erlebten inhaltlichen Fortschritte
soweit gestiegen ist, dass es ihm deutlich leichter fällt, sich der beständigen Übungen zu stellen.
Weil nun aber der Anteil der systematischen Lese-/Rechtschreibübungen über lange Zeit neben der lerntherapeutischen Anleitung im Gespräch und durch verhaltensmodifikatorische Maßnahmen einen bisweilen untergeordneten Anteil zugewiesen bekommen musste, ist X noch bedenklich von graphomotorischen Schwierigkeiten und trainierbaren Rechtschreibproblemen geplagt.
Es war aber unumgänglich, über lange Zeit den entscheidenden Förderschwerpunkt darin zu setzen, Xs „nervliches Portfolio“ stetig zu erweitern, denn keine systematische Übungsbehandlung kann Erfolg bringen, wenn Lernblockaden nicht hinreichend austherapiert werden.
Nun hat X den Status Quo erreicht, dass er sich jenseits seiner ehemaligen Blockaden der wahrnehmungs- und rechtschreibtechnischen Behandlung stellen kann, sodass sich hier sicherlich bei Fortführung der Behandlung viele der verbliebenen Defizite lösen lassen, und sich damit die Gefahr der Regression, die ich schon im aktuellen Therapieplan erwähnte, hinreichend wird eindämmen lassen können.
Dadurch, dass X sich in den jüngst vergangenen TE selbst vermehrt mit Hinweisen auf seine subjektiv empfundenen Defizite, die auch durch die Marker durch die Lehrer/innen bestätigt sind, eingebracht hat, haben sich inhaltlich der systematischen Übungsbehandlung zuzuordnenden Förderschwerpunkte ergeben, die nicht zu therapieren, m. E. fahrlässig wäre.
Die
Notwendigkeit einer Therapieverlängerung möchte ich auch damit
begründen, dass sich X nach eigener Aussage psychisch noch nicht
stabil genug fühlt, um ohne therapeutischen Beistand seine starke
Legasthenie auszuhalten.
X hat zwar im Anwenden der
Rechtschreibregeln durchaus weitere Fortschritte gemacht, aber
erstens konnten bislang nicht alle Regeln bearbeitet werden (s.
unten) und zweitens ist die Automatisierung in der Phonem- Graphem-
Zuordnung noch nicht ausreichend, obwohl X emsig mitarbeitet.
Problematisch ist weiterhin die Umsetzung der von X aufgrund seiner hohen Auffassungsgabe schnell verinnerlichten Rechtschreibregeln im freien Schreiben und beim Korrekturlesen, denn die Wahrnehmung gibt dieses noch nicht her.
Xs verbliebene AVWS macht es ihm schwer, Wörter zu segmentieren und hieraus die notwendigen Rechtschreibregeln zu ermitteln, wodurch Ableitungen oftmals nicht stattfinden.
Aber Xs unermüdliches Trainieren der segmentalen Route beispielsweise durch die Silbermethode hat schon zu Fortschritten geführt.
Das psycholinguistische Lese-/Rechtschreibtraining ist diesbezüglich ebenso schon sehr hilfreich.
Dieses trainiert die basalen Fertigkeiten, die zum erfolgreichen Lesen u n d Rechtschreiben notwendig sind. Besonderes Gewicht lag hierbei auf der Erweiterung des Arbeitsgedächtnisses, damit X sich z. B. beim Abschreiben von der Tafel längere Segmente zu merken lernt.
Hieran anschließend fand die Förderung einiger sprachverarbeitender Hirnfunktionen statt, die in ihrem Zusammenspiel eine korrekte Phonem-Graphem-Konvertierung ermöglichen werden.
Ziel ist es im Endeffekt, Xs orthographisches Output-Lexikon zu erweitern.
Hierzu müssen die erheblichen Defizite in den Teilfunktionen des Systems der Phonem-Graphem-Konvertierung behoben werden.
Der Ausgangspunkt für diese legasthenieimmanente Schwierigkeit ist in Xs Fall vermutlich noch weiter vorne in den Basisfunktionen der Sprachverarbeitung zu suchen, u. a. im phonologischen Input-Gedächtnis.
Somit ist sowohl das Lesen als auch das Rechtschreiben weder auf der segmentalen Route noch auf der hocheffizienten lexikalischen Route als g e s i c h e r t anzusehen, wobei Xs aber kontinuierlich messbare Fortschritte erzielt.
X hat isoliert den phonologischen und orthographische Buffer trainiert.
Hernach wurden beide Funktionen kombiniert, was insofern von Wichtigkeit ist, als dass geübte Leser/innen und Schreiber/innen nicht über die segmentale Route dekodieren und/oder explizit Rechtschreibregeln anwenden, sondern die Wörter als Ganzheiten im phonologischen und orthographischen Output-Gedächtnis gespeichert haben und dort abrufen können. Das Zusammenspiel ist zur Phonem-Graphem-Konvertierung notwendig, aber bei X zweifach eingeschränkt.
Nach eigener Angabe gelingt es X noch schlecht, sich beim reinen Abschreiben mehrere Buchstaben in Folge zu merken, sodass er oft zur Vorlage zurückschauen muss, obwohl ihm das isolierte Segmentieren in Silben inzwischen recht gut gelingt, wenn das Wortmaterial direkt vor ihm liegt und nicht abgedeckt wird..
Hier zeigt sich der defizitäre phonologische und orthographische Buffer (temporäres Arbeitsgedächtnis). Es ist nicht klar, ob das Problem im Input- oder Output-Buffer gründet, was auch generell wissenschaftlich noch nicht erforscht ist.
Die Komplexität des lauten Lesens mit der Notwendigkeit, einen ganzen Satz zu überblicken (wg. der Betonung) und s i m u l t a n die Wörter zu fragmentieren bzw. aus dem Speicher abzurufen, strengt X sehr an.
Um in altersgemäßem Tempo sinnentnehmend lesen zu können, muss X unbedingt die notwendigen Teilfunktionen und deren Kombination trainieren.
Wegen seiner phonologischen Dyslexie ist dieses Lesen auch auf der lexikalischen Route für X allerdings besonders schwierig. Es muss viel an der phonologischen Bewusstheit gearbeitet werden. Die Einschränkung wurde besonders beim Schreiben von unbekannten lauttreuen Wörtern deutlich.
Weil das lexikalische Gedächtnis (auswendig beherrschte Wörter) eingeschränkt ist, ist die Förderung der segmentalen Route sehr wichtig, damit X in die Lage versetzt wird, unbekannte Wörter zu identifizieren.
Auch die lexikalische Route wird aber durch Ganzworttraining trainiert, damit sich der altersgemäße Wortschatz sukzessive a u t o m a t i s i e r e n lässt.
Zudem beeinträchtigen die Probleme beim Aufbau der segmentalen Route auch die lexikalische Route und umgekehrt.
Bei X wird augenfällig, dass die phonologische Dyslexie mit Ganzwort-Substitutionen einhergeht. Verwechslungen treten immer noch auf, wenn ähnliche Wörter zu lesen sind, beispielsweise Biene → Beine, Dose → Hose.
Semantische Paralexien und Paragraphien sind aber bei X nicht zu beobachten.
X ersetzt manchmal niedrigfrequent auftretende durch hochfrequent auftretende Wörter.
Der Aufbau visuell orthographischer Repräsentationen im orthographischen Lexikon gelingt ihm nicht schnell genug.
Auch sind Xs aktivierbare Verbindungen vom orthographischen Lexikon zum semantischen System und zum phonologischen Output-Lexikon noch beeinträchtigt.
Die segmentale Route ist insofern noch beeinträchtigt, als X noch nicht hinreichend in der Lage ist, orthographisches Regelwissen bzw. das entsprechende Wortwissen schnell und zuverlässig abzurufen. Gespeichert ist dieses Wissen aber überwiegend sehr wohl im Langzeitgedächtnis (s. o. → Verinnerlichung des Rechtschreibregelwissens).
Xs visuell-graphematische Analyse des geschriebenen Wortes ist noch insuffizient, weil die Verbindung dieses Prozesses zum Abrufen im orthographischen Input-Lexikon beeinträchtigt ist.
Somit kommt es – auch durch Defizite des phonologischen Buffers und Funktionsbeeinträchtigung des phonologischen Output-Lexikons – regelmäßig zu Störungen im System der Graphem-Phonem-Konvertierung.
Doch die Auswirkungen solcher Lesefehler auf den Sinn des Gelesenen haben sich schon verringert.
Das Schreiben nach Diktat ist für X insofern noch sehr anstrengend, als hier Informationen aus dem semantischen System sowie das phonologische u n d orthographische Input-Gedächtnis als Input dienen. Hernach ist noch die Phonem-Graphem-Konvertierung zu bewältigen, die wegen der beschädigten Buffer erschwert ist.
Es ist unerlässlich, weiterhin die o. g. Grundfunktionen zu trainieren, um die Schnelligkeit der schriftsprachlichen Informationsverarbeitung zu steigern und diese zu automatisieren.
Hier münden meine ursachenaufdeckenden Betrachtungen der Sprachverarbeitung in der Zusammenfassung des absolvierten regelgeleiteten Rechtschreibtrainings.
Es ist – wie oben schon erwähnt – X auf Grund seiner stark ausgeprägten LRS/Legasthenie trotz seiner enormen Eigenmotivation noch nicht gelungen, alle im Therapieentwurf genannten Rechtschreibregeln abzuarbeiten.
X wurde von mir plangemäß darin unterstützt, seine kontinuierlich trainierte phonematische Bewusstheit durch strukturierte Anwendung auf die Rechtschreibfindung anzuwenden.
Die Regeln der Groß- und Kleinschreibung müssen teilweise wiederholt und gefestigt werden, da der zweite Durchlauf dieses Themas noch Lücken zu beheben offen ließ.
Absolviertes Training:
- Wortbildgedächtnis (s. o. Buffer)
- individuelle Lernwörter
- Fließtext-Korrektur
- Graphomotorik wg. durch Lehrer/innen als unleserlich bewerteter Handschrift
-
regelgeleitete
Rechtschreibtraining:
- Umsetzung der Verlängerungsregel bei auslautverhärtenden Verschlusslauten
- Differenzierung langer und kurzer Vokale mit Bezug auf ck/k und tz/z
- Konsonanten-Doppelung
- gesummtes vs. gezischtes [s]
- Differenzierung von ss/ß
- f/pf
- Dehngs-h.
- Groß- und Kleinschreibung
- das vs. dass
- Vorsilben ver-, vor-, voll-
- Fremdwörter auf -ik und -ieren
- e/ä – eu/äu
- ie/ih/ieh
- Doppelvokale
- Vorsilben end-/ent-
- wider und wieder
- altersentsprechende Fremdwörter allgemein
Diese Regeln müssen fortwährend wiederholt und in ihrer Anwendung in Fließtext-Korrektur trainiert werden, um für X hilfreich zu werden.
X ist im freien Schreiben immer noch beeinträchtigt, wenn er seinen Gedanken nachgeht, aber parallel auch Lernwörter schreiben und Regeln anwenden muss. Hier kommt Xs überdurchschnittliche Intelligenz, die in einem sehr schnellen Gedankenfluss mündet zum Tragen. Deswegen ist X noch stärker als ein/e durchschnittlich begabte/r Legastheniker/in beeinträchtigt.
Das Korrekturlesen dauert noch sehr, sehr lange und ist resultierend aus dem Vorgedanken besonders aufwändig.
Eine große Problematik ist noch immer die Handschrift. X werden immer wieder Fehler angestrichen, weil die Lehrer/innen nicht erlesen können, was X geschrieben hat. Auch hier kommt der schnelle Gedankenfluss des hochintelligenten Jungen zum Tragen, dem die Handmotorik weit unterlegen ist.
Da X sehr schnell denkt, versucht er selbstverständlich auch sehr schnell zu schreiben, was bei einzelnen Buchstaben zu Verwirrungen führt.
Hier ist weiteres Training angezeigt, dass die Graphomotorik schult und dabei für einige Buchstaben eine andere Schreibweise einführt und vor allem automatisiert. Die Erfolge sind noch unzureichend, wenngleich messbar.
Die Automatisierung steht noch an und kann von X nicht alleine bewältigt werden, weil ihn immer wieder seine „alte Mutlosigkeit“ zu überrollen droht.
Xs
Legasthenie ist asugesprochen stark ausgeprägt, sogar wenn man seine
hohe Intelligenz vernachlässigte. Also ist nicht nur die Diskrepanz
zwischen der Rechtschreibleistung zu seiner individuell hohen
Intelligenz groß, sondern die Rechtschreibleistung steht immer noch
auch im großen Gegensatz zu einer angenommenen mittelmäßigen
Intelligenz.
Es ist also dringend noch Wahrnehmungstraining
nötig.
So sollen auch Überforderungssituationen beim
häuslichen Üben noch weiter abgebaut werden.
Xs durch die Legasthenie eingeschränktes Arbeitsgedächtnis (s. o) muss weiterhin geschult werden, damit auch das Erlernen von Vokabeln und Gedichten/Balladen leichter fällt.
Das psycholinguistische Lese-/Rechtschreibtraining ist fortzusetzen.
Sowohl das fortwährende Rechtschreibtraining als auch die lerntherapeutische emotionale Unterstützung haben im psychodynamischen Setting auf die Stabilisierung von Xs Selbstwertgefühl abgezielt. Hier ist ein Meilenstein erreicht, aber Xs seelisches Gefüge ist noch sehr fragil.
Im lerntherapeutischen Gespräch wurde auch Xs Hochbegabung thematisiert, da diese großen Einfluss auf seine Position unter den Mitschüler/innen hat (Stichwort Mobbing). X ist stabiler geworden, aber noch immer in seiner Selbstsicherheit gefährdet.
X fühlt sich weiterhin mit seiner Teilleistungsschwäche in seiner Familie sehr gut aufgehoben und weiß die häusliche Unterstützung zu schätzen.
Ich bitte Sie, liebe Frau M, positiv über den Folgeantrag zu befinden, den Familie P für X stellen wird, sofern Ihre Vorgaben dieses hergeben.
Familie Y erhält eine Zweitschrift diesen Berichts.
Für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Ich hoffe, Sie mit diesen Angaben unterstützt zu haben, und verbleibe
mit freundlichem Gruß
Dipl.-Päd. Friederike Ch. Andrés-Moysich
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Diese Behandlung befindet sich derzeitig in der dritten Therapiephase. Dei weitere Entwicklung wird hier beizeiten angefügt.